Keine Festung Europa – Das EU-Asylrecht darf nicht zum Nachteil der Schutzsuchenden geschwächt werden!
- Die Innenminister*innen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben sich am 08.06.2023 auf eine Verhandlungsposition zur Asylverfahrensverordnung (AsylVerf-VO) und zur Verordnung über Asyl- und Migrationsmanagement (AMM-VO) geeinigt. Sie wird die Grundlage für die Verhandlungen des Ratsvorsitzes mit dem Europäischen Parlament und der EU-Kommission (Trilog) bilden, um das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) zu reformieren.
- Die Verhandlungen des Rats der Europäischen Union für die Verordnung im Fall von Krisen, höherer Gewalt und Instrumentalisierung („Krisenverordnung“) finden darüber hinaus derzeit noch statt und sollen in den kommenden Wochen abgeschlossen werden.
Beschluss des SPD-Landesvorstanfs vom 5.9.2023:
- Die Bundesregierung wird aufgefordert, der „Verordnung im Fall von Krisen, höherer Gewalt und Instrumentalisierung“ im Rat nicht zuzustimmen, sollten die im aktuellen Verordnungstext enthaltenen Abschwächungen der derzeitigen Standards für die Registrierung, Unterbringung und rechtliche Verfahren unter Berufung auf „Instrumentalisierung“, Krisen und „force majeure“ zum Zeitpunkt der Abstimmung nicht vollständig entfernt worden sein.
- Die SPD-Mitglieder der S&D-Fraktion im EU-Parlament werden aufgefordert, sich bei den Verhandlungen mit dem Rat für die Rechte schutzsuchender Menschen einzusetzen und jegliche Einigung abzulehnen, die diese Grundstandards missachtet. Dies muss insbesondere auch in Fällen von Krisen, höherer Gewalt („force majeure‘‘) und Instrumentalisierung gelten.
Die Mitglieder der S&D-Fraktion im EU-Parlament sowie die Bundesregierung werden darüber hinaus aufgefordert, der GEAS-Reform nicht zuzustimmen, wenn die folgenden Bedingungen nicht gegeben sind:
- Einführung eines echten und effektiven Solidaritäts- und Verteilungsmechanismus für alle Asylsuchenden (nicht nur 30.000, wie aktuell vorgesehen) in der Europäischen Union als Nachfolge des Dublin-III-Verfahrens, welcher die Staaten an den EU-Außengrenzen, insb. die Mittelmeeranrainerstaaten, im Registrierungs- und Entscheidungsprozess nachhaltig finanziell und personell entlastet. Sollten einzelne Mitgliedsstaaten diesen Solidaritätsmechanismus nicht mittragen wollen, muss die Bundesregierung gemeinsam mit gewillten EU-Partnerstaaten vorangehen und ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ für die Registrierung, Aufnahme und Integration von Flüchtlingen anführen;
- Einführung eines echten Anreizsystems für die Aufnahme und Integration von Flüchtlingen in Form eines EU-Fonds aller Mitgliedsstaaten, welcher aufnahmewillige Staaten und Kommunen ausreichend finanziell unterstützt;
- Ein Ablassen von der derzeit geplanten Verwendung der Fiktion der Nicht-Einreise, welche die Rechtsposition der betroffenen weitere verschlechtert und die Schaffung von Haftlagern und Abschiebungen ohne rechtsstaatlich angemessene Verfahren unterstützt.
- Eine Ablehnung von Grenzverfahren ohne rechtstaatliche Einzelfallprüfung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, welche durch die Anerkennungsquote bezüglich eines bestimmten Herkunftslandes oder die auf der Flucht durchquerten Drittstaaten ausgelöst würden. Diese Kriterien dürfen nicht zu einem Maßstab erhoben werden, der über die faktische Inhaftierung von Betroffenen in streng kontrollierten Aufnahmeeinrichtungen entscheidet. Dieser willkürliche Maßstab verstößt gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und ist vor dem Hintergrund der Menschenrechtsbetroffenheit bei haftähnlicher Behandlung ohne verpflichtenden Rechtsbeistand völlig ungeeignet;
- Eine Ausnahme von Familien mit minderjährigen Kindern von jeglicher Form von Grenzverfahren, wobei die Definition „Kind“ entsprechend der UN-Kinderrechtskonvention alle Minderjährigen unter 18 meint;
- Eine Garantie, dass Menschen mit besonderen Verfahrens- und Unterbringungsbedürfnissen (unter anderem Opfer von Folter, Betroffene von sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt sowie des Menschenhandels, LGBTIQ+ und Schwangere) ebenfalls aus den Grenzverfahren ausgenommen werden sowie, dass alle EU-Mitgliedsstaaten kollektiv in den Ausbau adäquater psychologischer, medizinischer und rechtlicher Betreuungskapazitäten dieser Personengruppen investieren;
- Eine Garantie, dass die Zuständigkeit für die Prüfung eines Asylantrages von unbegleiteten Minderjährigen bei fehlenden Familienangehörigen, die sich rechtmäßig in einem EU-Mitgliedstaat aufhalten, bei dem Mitgliedsstaat liegt, in welchem dieser sich aufhält und seinen Antrag gestellt hat ;
- Eine Garantie, dass Zivilgesellschafts- und Menschenrechtsorganisationen, medizinisches, psychologisches und juristisches Personal vollumfänglichen Zugang zu Registrierungs- und Aufnahmezentren in allen EU-Mitgliedsstaaten haben. Auch Seenotrettungsorganisationen müssen ohne jegliche Behinderung in EU-Gewässern operieren können, ohne kriminalisiert zu werden. Darüber hinaus ist eine europäisch koordinierte und finanzierte Seenotrettung dringend erforderlich und geboten, um weiteres Sterben an den EU-Außengrenzen zu verhindern;
- Die tatsächliche verpflichtende Einleitung von Vertragsverletzungsverfahren durch die EU-Kommission ohne jegliche „Übergangsphase“ nach Einführung der GEAS-Reform, um einen Rückstau an Verfahren zu verhindern;
- Ein Ablassen von den Versuchen, Rückführungsabkommen mit Drittstaaten zu schließen, welche die europäischen Abhängigkeiten von Autokratien befördern und somit dem Ziel der europäischen Souveränität entgegenlaufen. Eine Bestimmung eines ,,sicheren Drittstaates‘‘ durch einzelne Mitgliedstaaten darf nicht stattfinden.
- Eine völkerrechtskonforme und in Übereinstimmung mit dem Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP ausgestaltete GEAS-Reform.
Begründung:
Das aus den Lehren des Nationalsozialismus geborene Flüchtlingsrecht ist ein fundamentales Menschenrecht, das mit einem effektiven Rechtschutzverfahren flankiert werden muss. Schutzansprüche und Verfahrensrechte haben verfassungsrechtlichen und völkerrechtlichen Rang.
Die Bundesregierung hatte in Ihrem Koalitionsvertrag in der Migrationspolitik einen ,,Paradigmenwechsel“ angekündigt, „um Geflüchtete zu schützen“ und verabredet, sich für „bessere Standards für Schutzsuchende in den Asylverfahren“ auf europäischer Ebene einzusetzen. Nun wird aber eine Politik der Abschottung betrieben. Die forcierten Änderungen auf europäischer Ebene sind nicht nur eine weitere Verschärfung des Asylrechts. Sie stellen auch die Rechte von Geflüchteten sowie rechtsstaatliche Grundsätze in Frage. Diese Politik wird die Entrechtung und das Leid an den europäischen Außengrenzen verschärfen sowie die Ausgrenzung von Geflüchteten und ihre Inhaftierung begünstigen. Die Pläne werden dazu beitragen, dass die menschenrechtswidrigen und tödlichen Pushbacks an den EU-Außengrenzen zunehmen, da die Grenzverfahren maßgeblich in der Zuständigkeit der Grenzstaaten liegen werden.
Statt ernsthaft Fluchtursachen zu bekämpfen und sich konstruktiv für einen solidarischen Verteilungsmechanismus in der Europäischen Union einzusetzen oder das völlig überholte und nicht funktionierende Dublin-System zu reformieren, werden die Schutzsuchenden zum Problem erklärt. Notwendig ist eine Politik, die dem rechten Diskurs eine Politik der Menschenrechte entgegensetzt, indem der Zugang zum Recht und ein effektives Flüchtlingsrecht gewährleistet werden.
Zu Ziff. 1 und 2: Der hierfür durch die schwedische Ratspräsidentschaft vorgelegte Text würde es den EU-Mitgliedsstaaten erlauben, im Falle einer „Instrumentalisierung“ oder „höherer Gewalt“ die Menschenrechte von Asylantragsstellenden vollkommen zu suspendieren sowie europäische Vorschriften für die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen unter Ausrufung von Ausnahmezuständen unter jegliches Minimum der Menschenwürdigkeit abzusenken. Zudem wäre es Mitgliedsstaaten erlaubt, sämtliche in den derzeitigen Rats- und Parlamentsvorschlägen für die GEAS-Reform für die Ausnahme von Grenzverfahren vorgesehenen vulnerablen Gruppen – unbegleitete und begleitete Kinder, Menschen mit Behinderungen, Traumatisierte – sehr wohl unter haftähnlichen Bedingungen in die Grenzverfahren aufzunehmen oder gar über mehrere Wochen nicht zu registrieren, was die Gefahr von Pushbacks erhöht.
Die Bundesregierung hat sich im Dezember 2022 dagegen ausgesprochen, die bereits damals durch die tschechische Ratspräsidentschaft vorgelegten Vorschläge für den Fall einer Instrumentalisierung in die Krisenverordnung aufzunehmen. Da Verordnung jedoch einen verpflichtenden Teil der GEAS-Reform darstellen soll, ist zu befürchten, dass die Bundesregierung nun abermals Kompromisse „mit Bauchschmerzen“ eingehen wird, um kein Scheitern der Reform zu riskieren.
Eine effektive Solidarität im Sinne von Umverteilung von Schutzsuchenden ist in der Einigung der EU-Innenminister*innen nicht vorgesehen und die Gefahr menschenrechtswidriger Zustände an den Außengrenzen erscheint noch größer.
Zu Ziff. 3 und 4: Es muss endlich anerkennt werden, dass das Dublin-System gescheitert ist. Den Außengrenzstaaten einseitig die Pflicht aufzuerlegen, für die EU die Bereiche Migration und Asyl zu managen, funktioniert nicht. Die häufig beklagte Sekundärmigration von Geflüchteten innerhalb der EU ist eine Folge dieses Ungleichgewichts. Die Außengrenzstaaten nutzen dies zum Teil bewusst, um einen irregulären Ausgleichsmechanismus zu schaffen. Die geplante Ausweitung des gescheiterten Dublin-Systems durch die Verlängerung von Überstellungsfristen wird das ohnehin dysfunktionale System nicht entlasten, sondern die prekäre Situation und die Dauer von Asylverfahren verlängern. Der in der AMM-VO vorgesehene Verteilmechanismus ist ein Schritt in die richtige Richtung, geht aber nicht weit genug.
Zu Ziff. 5: Mit der AsylVerf-VO sollen auch verbindliche Verfahren an den EU-Außengrenzen eingeführt werden, damit in einem Schnellverfahren festgestellt wird, ob Anträge unbegründet oder unzulässig sind und im Falle einer negativen Entscheidung direkt in das Abschiebeverfahren münden (Grenzverfahren). Während der Grenzverfahren sollen Schutzsuchende, obwohl sie eindeutig auf europäischem Territorium sind, als ,,nicht eingereist‘‘ gelten. Mit der Fiktion der Nicht-Einreise wird ein Zustand der Rechtslosigkeit statuiert. Zudem macht sie Haftlager an der Außengrenzen notwendig.
Zu Ziff.6: Insbesondere sollen ankommende Menschen aus als sicher geltenden Staaten mit einer Anerkennungsquote von unter 20 % künftig nach dem Grenzübertritt unter haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen kommen. Diese Schutzquote ist willkürlich. Es ist nicht hinnehmbar, dass in diesen Fällen kein ordentliches und rechtsstaatliches Asylverfahren stattfinden kann. Das individuelle Recht auf Asyl wird missachtet, da Schutzsuchende auch von Verfolgung bedroht sein können, auch wenn sie aus einem als sicher geltenden Staat kommen, wie etwa Russland, Pakistan, Nigeria oder Bangladesch.
Während die Grenzverfahren bislang nur vier Wochen dauern dürfen, wird diese Zeit auf bis zu 12 Wochen verdreifacht. Damit werden Schutzsuchende für diese Zeit an den Außengrenzen und zwar absehbar hinter Stacheldraht und Mauern festgehalten. Rechtsschutz ist demgegenüber nicht ausreichend geregelt. Wann Zugang zu Anwält*innen besteht, bleibt im Wesentlichen ungeregelt. Anwält*innen können auf eigene Kosten engagiert werden, Anspruch auf Rechtsbeistand besteht nur in engen Ausnahmefällen. Dies führt zu einer faktischen Entrechtung, weil der Zugang zu Beratung, juristischer Vertretung und Rechtsschutz nicht effektiv gewährleistet werden kann. Der effektive Rechtsschutz an den Außengrenzen ist somit weder rechtlich noch tatsächlich gewährleistet.
Insgesamt sollen stets 30.000 Plätze für solche Grenzverfahren in der EU bereitgehalten werden. Pro Jahr können somit 120.000 schutzsuchende Menschen inhaftiert werden! An das Asylgrenzverfahren schließt sich bei Ablehnung ein bis zu 12-wöchiges Abschiebungsgrenzverfahren (bis zu 18 Monate) an und dann könnte zusätzlich noch Abschiebungshaft angeordnet werden. Damit könnten Personen bis zu zwei Jahren an den Grenzen inhaftiert werden. Auch Familien mit minderjährigen Kindern können monatelang in Massenlagern festgehalten werden. Für eine Ausnahmeregelung in der Einigung der EU-Innenminister*innen ist nicht gesorgt worden.
Zu Ziff. 7: Art. 41e der AsylVerf-VO, der die Ausnahmen von den Grenzverfahren regelt, sieht – anders als noch die vorherigen Textvorschläge oder der Vorschlag der EU-Kommission – keine Ausnahmen für Familien mit Minderjährigen mehr vor. Ursprünglich sollten alle Familien mit Kindern unter 12 Jahren ausgenommen sein. Ausnahmen vom Grenzverfahren sind aber für jede Familie mit minderjährigen Kindern notwendig. Zum einen können die Garantien des GEAS für Familien und Minderjährige in den Außengrenzhaftlagern kaum eingehalten werden. Und zum anderen kann in einem Außengrenzhaftlager das in Art. 3 der VN-Kinderrechtskonvention festgeschriebene und verbindlich zu achtende Kindeswohl nicht gewahrt werden. Die festgeschriebene Ausnahme in Art. 41e Abs. 2 b) AsylVerf-VO für den Fall, dass die notwendigen Unterbringungsbedarfe Minderjähriger nicht gewahrt werden können, genügt nicht. Sie lässt zu viel Spielraum zu und dürfte, wenn überhaupt, erst dann angewandt werden, wenn die Zustände offensichtlich verheerend sind und Grundrechteverletzungen bereits entstanden sind. Wie hier eine kindgerechte Versorgung möglich sein soll, bleibt fraglich.
Die Anwendung der Grenzverfahren auf minderjährige Kinder, die mit ihren Eltern Schutz suchen, sowie deren Inhaftierung widersprechen evident der UN-Kinderrechtskonvention sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Zu Ziff. 8: Art. 41e Abs. 2 b) und c) AsylVerf-VO sieht zwar Ausnahmen dann vor, wenn der notwendige Bedarf an Unterbringungsleistung und Verfahrensgarantien für besonders vulnerable Gruppen (unter anderem Opfer von Folter, Betroffene von sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt sowie des Menschenhandels, LGBTIQ+ und Schwangere) nicht mehr zur Verfügung gestellt werden kann.
Dies genügt allerding nicht, da die Ausnahme zu viel Spielraum zulässt und wenn überhaupt erst dann angewendet werden könnte, wenn die Zustände offensichtlich verheerend sind und Grundrechteverletzung bereits entstanden sind. Zudem ist schwer vorstellbar, wie den Bedürfnissen nach Sicherheit und Ruhe dieses Personenkreises in einem Schnellverfahren in einem Haftlager an der Außengrenze entsprochen werden soll. Außerdem dürfte sich die Betreuung durch angemessen geschultes Fachpersonal in den höchstwahrscheinlich entlegenen Lagern als kaum praktikabel erweisen. Gerade im Falle von Betroffenen sexueller- und geschlechtsspezifischer Gewalt und Menschenhandel sowie LGBTIQ+ dürfte eine ausreichende Trennung von und Schutz vor mitreisenden Täter*innen oder anderen feindseligen Dritten im Außengrenzhaftlager kaum gewährleistet werden.
Zu Ziff. 9: Nach Artikel 15 Abs. 5 AsylVerf-VO soll bei Fehlen von Familienangehörigen in den EU-Mitgliedstaaten derjenige Mitgliedstaat für die Überprüfung des Asylantrages zuständig sein, in dem der erste Antrag des unbegleiteten Minderjährigen auf internationalen Schutz registriert wurde. Dies widerspricht der Rechtsprechung des EUGH, wonach unbegleitete Minderjährige eine Kategorie besonders gefährdeter Personen bilden und es somit wichtig ist, dass sich das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nicht länger als unbedingt nötig hinzieht, was bedeutet, dass unbegleitete Minderjährige grundsätzlich nicht in einen anderen Mitgliedstaat zu überstellen sind. Im Interesse unbegleiteter Minderjähriger ist es folglich wichtig, dass sich das Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats nicht unsachgemäß in die Länge zieht; ihnen ist vielmehr ein rascher Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten.
Zu Ziff. 10: Menschenrechtsorganisationen beklagen, dass ein Zugang von medizinischem, psychologischem und juristischem Personal zu den Registrierungs- und Aufnahmezentren bereits jetzt schon erschwert ist. Durch die Einführung der Grenzschutzverfahren und Etablierung der Haftlager werden diese Zugänge noch drastischer erschwert und vielen sogar gänzlich versperrt.
Aktivist*innen der zivilen Seenotrettung werden darüber hinaus systematisch durch Mitgliedstaaten der EU kriminalisiert. Wenn Personen in Seenot geraten, gebietet das internationale Recht, dass der Schutz von Leben oberste Priorität hat, indem für eine rechtzeitige Rettung und sichere Ausschiffung gesorgt wird. Dabei ist es zunächst unbedeutend, welchen Status die Geretteten haben. Die Regierungen der Mittelmeeranrainerstaaten gehen immer wieder mit restriktiven Maßnahmen gegen die Teams der Seenotretter*innen vor. Da derzeit kein europäisches Seenotrettungssystem
besteht, spielen die NGOs jedoch eine entscheidende Rolle bei der Rettung von Ertrinkenden. Frontex kann keine Seenotrettung übernehmen, da im Mandat der Grenzschutzorganisation keine Such- und Rettungsmaßnahmen vorgesehen sind.
Zu Ziff. 11: Bereits jetzt wäre nach dem geltenden EU-Recht die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens wegen Pushbacks und fortwährender Gewalt gegen Schutzsuchenden möglich. Seit Jahren werden die europäischen Außengrenzen mehr und mehr zu rechtsfreien Räumen, in denen die Schutzsuchenden ihrer Rechte beraubt werden. Die Umsetzungsfrist der GEAS-Reform soll zwei Jahre betragen und als Verordnung unmittelbar in den EU-Mitgliedstaaten gelten. Damit könnten die EU-Mitgliedstaaten auch weiterhin während des Übergangszeitraumes Menschenrechtsverletzungen und Rechtsverstöße begehen, ohne Konsequenzen erwarten zu müssen.
Zu Ziff. 12: Die Mitgliedstaaten können entscheiden, das Grenzverfahren auf alle Personen, die über einen angeblichen ,,sicheren Drittstaat‘‘ gekommen sind, auszuweiten. Das würde etwa de facto alle syrischen und afghanischen Flüchtlinge treffen, da Griechenland die Türkei als ,,sicher‘‘ ansieht. Asylverfahren dürfen nicht in Drittstaaten verlegt werden. Es kann nicht sichergestellt werden, dass Asylverfahren, die auf dem Territorium eines Drittstaates stattfinden, rechtsstaatlichen Maßstäben genügen. Darüber hinaus können auch Schutzsuchende etwa aus Syrien oder Afghanistan in die Grenzverfahren kommen, wenn sie z.B. ohne Reisepass ankommen und ihnen vorgeworfen wird, dass sie diesen absichtlich entsorgt haben.
Zu Ziff. 13: Laut Koalitionsvertrag von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP muss u.a. der Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen oder bereits in der EU sind, inhaltlich geprüft werden. Darüber hinaus wird eine faire Verteilung von Verantwortung und Zuständigkeit bei der Aufnahme zwischen den EU-Mitgliedstaaten sowie die Beendigung des Leids an den Außengrenzen als Ziel deklariert. Aus den vorgenannten Gründen ist die Einigung der EU-Innenmninister*innen auch nicht mit dem Koalitionsvertrag vereinbar.