Alexander Kulpok erlebt als Kind, wie die Rote Armee kurz vor Kriegsende in Berlin einmarschiert. Der Alltag ist geprägt von Entbehrungen und der Angst vor Bombenangriffen. Nach der Kapitulation beginnt ganz langsam wieder das öffentliche Leben in der Hauptstadt: Die Berliner Theater nehmen den Spielbetrieb wieder auf, die ersten Fußballspiele finden statt. „Wir waren noch einmal davongekommen“, konstatiert der heute 81-Jährige.
Am 16. April 1945 eröffnete Sowjetmarschall Konjew die Schlacht um Berlin, die letztendlich jedoch von Marschall Schukow siegreich beendet wurde. Die Rote Armee marschierte von Süden her – über den Flughafen Tempelhof – in die Stadt ein. Offenbar in der Annahme, die NS-Führung wolle die Hauptstadt in Militärmaschinen verlassen.
Der Bezirk Neukölln, angrenzend an das Tempelhofer Feld, war der erste Haltepunkt der Sowjetarmee. Dort erlebte ich im April 1945 den Einmarsch der Sowjets. Erst viel später erfuhren wir, dass dies die entscheidende Schlacht auf den Seelower Höhen war. Seit zehn Tagen campierten wir im Luftschutzkeller des Hinterhauses in der Allerstraße.
Das Singen der „Stalinorgel“, der Katjuscha – ein Mehrfachraketenwerfer, der später sogar zum Romantitel wurde – war unsere Nachtmusik und unser ständiger Weckruf. Wir wussten nicht, wie es Verwandten und Freunden in Berlin erging, die wir sonst nach jedem der schweren Bombenangriffe in kilometerlangen Fußmärschen aufgesucht hatten, um Gewissheit zu erlangen.
Wir wussten nicht, wie es um den jüdischen Geiger Max Michailow (Morduch Finkelstein) und seine Mutter bestellt war, die seit dem Herbst 1944 bei uns und in einem Erdloch in der Britzer Kleingartenkolonie „Goldregen“ versteckt wurden. Noch immer gab es in jenen Tagen die Möglichkeit, Lebensmittel – vor allem Brot – einzukaufen.
Dann bildeten sich lange Schlangen an den Läden und Verkaufsstellen. Bei Raketenbeschuss eine tödliche Gefahr, der viele Frauen in den letzten Kriegstagen zum Opfer fielen. Die furchtbarsten Folgen hatten im Bezirk Neukölln die Einschläge im berühmten Kaufhaus Karstadt. Denn trotz der warnenden Schilder „Plünderer werden erschossen“ war die Versuchung für viele in diesen Tagen der Not und Entbehrung zu groß.
Sie gingen zu Karstadt und schleppten heraus, was sie ergattern konnten – zumeist riesige Stoffballen. Da geschah das Entsetzliche – ein Raketeneinschlag, der das Gebäude in Schutt und Asche legte und zahlreiche Todesopfer forderte. Außer dem Gefechtslärm bekamen wir in den Tagen und Nächten unseres Kellerdaseins nicht viel mit von der Außenwelt. Wir warteten auf das Ende.
Wie ich heute weiß, mit durchaus unterschiedlichen Hoffnungen und Gefühlen, denn bei einigen war der Glaube an den „Endsieg“ noch längst nicht erloschen. Als US-Präsident Franklin D. Roosevelt am 12. April 1945 starb und der bis zum 23. April erscheinende „Völkische Beobachter“ diese Nachricht vermeldete, gab es in unserer Straße gar einige Jubelschreie.
Eine Frau rief jauchzend: „Jetzt kommt die Wende!“. Der „Panzerbär“ – vom 22. April 1945 an eine Woche lang das „Kampfblatt für die Verteidiger Groß-Berlins“ – titelte noch in seiner letzten Ausgabe einen Tag vor Hitlers Selbstmord: „Wo der Führer ist, ist der Sieg!“. Die allgemeine Stimmung wandelte sich an jenem Sonnentag, als die Sowjets kamen, durchaus zum Guten. Die Rotarmisten versorgten alle Hausbewohner sogleich aus ihrer Gulaschkanone.
Zu uns Kindern waren die fremden Soldaten von nahezu rührender Herzlichkeit. Das war noch erfreulicher als die Ovomaltine von Frau Schuster – einer Schweizer Staatsbürgerin, die über uns im vierten Stockwerk wohnte und durch ein Dokument der Schweizer Botschaft an ihrer Wohnungstür vor Attacken von Rotarmisten bewahrt wurde.
Als der Abend hereinbrach, mussten wir zurück in den Keller. Was jetzt geschah, widerlegt die Schilderungen des luziden Wolfgang Leonhard („Die Revolution entlässt ihre Kinder“), der in jenen Tagen mit der „Gruppe Ulbricht“ zu uns an der Straßenecke zur Neuköllner Schillerpromenade in die damalige Berliner KPD-Zentrale kam.
Der 2014 verstorbene Leonhard meinte bis zuletzt, erst mit der zweiten Welle der erobernden Sowjetarmee sei es in Berlin zu Vergewaltigungen gekommen. Bei uns geschah es am ersten Abend und danach nie wieder. Der erste Stadtkommandant General Bersarin, der in Berlin bei einem Motorradunfall tödlich verunglückte und bis heute Ehrenbürger der Stadt ist, hatte drakonische Strafen gegen marodierende Rotarmisten verhängt.
Damals hängten wir als Zeichen der Unterwerfung und persönlichen Kapitulation ein weißes Bettlaken an einem Besenstiel aus dem Fenster. Für einen Sechsjährigen begann ein abenteuerliches und aufregendes Leben. Das nicht ungefährliche Kinderspiel in den Ruinen gehörte zum Alltag. Ein vorzüglich Deutsch sprechender Hauptmann namens Viktor war uns zugeteilt worden und besorgte die Zutaten für das Festmahl der Hochzeit von Max Michailow, der das Kriegsende mit seiner Mutter unversehrt überstanden hatte und jetzt seine nicht-jüdische Freundin heiraten konnte.
Aufgetischt wurde die Berliner Spezialität „Falscher Hase“. Im Mai hatte Max im Haus des Rundfunks wieder einen öffentlichen Auftritt – mit Tschaikowskys Violinkonzert. Die Berliner Theater nahmen ihren Spielbetrieb auf und die ersten Fußballspiele lockten die Fans in die Stadien. Wir waren noch einmal davongekommen.
Es begann eine Kindheit im amerikanischen Sektor von Berlin – unter jenem Motto, das in die Berliner Freiheitsglocke im traditionsreichen Rathaus Schöneberg eingemeißelt ist: „Ich glaube an die Würde und die Unantastbarkeit jedes einzelnen Menschen.“