Michael Müller

Berliner Stimme 5|2020: Aus der Corona-Krise lernen: Jetzt eine solidarische und soziale Wirtschafts­ordnung schaffen

Die Corona-Krise hat gezeigt, wie sehr in Krisenzeiten der Wirtschaftsliberalismus versagt. Die Menschen haben in den vergangenen Monaten erkannt, dass der Markt eben nicht alles regelt. Es ist deshalb der richtige Moment, den Anspruch auf eine neue soziale Wirtschaftsordnung mit einem starken Staat zu erheben.

Fest steht schon jetzt: Wir müssen zunächst unser Land aus einer unvergleichlichen Krise führen. Als erster Schritt ist es natürlich richtig und wichtig, die Wirtschaft durch das jetzt von der Bundesregierung aufgesetzte Konjunkturpaket wieder anzukurbeln.

Die sich bietende Gelegenheit nutzen, um die Wirtschaft und unsere Gesellschaft gerechter und damit krisenfester zu gestalten.

Dabei ist es gut, dass neben klassischen konsumtiven Elementen ein klarer Schwerpunkt für mehr Innovation, Digitalisierung und Klimawandel gelegt wurde. Gerade Berlin wird davon als Innovationsmetropole mit seinem starken Wissenschafts- und Forschungsbereich profitieren.

Wir sollten uns aber mit einem Konjunkturprogramm als Anschubfinanzierung für die notleidende Wirtschaft nicht zufriedengeben. Sondern die sich bietende Gelegenheit nutzen, die Wirtschaft und unsere Gesellschaft gerechter und damit krisenfester zu gestalten.

Zeit für europäische Solidarität: Eurobonds jetzt

Für Deutschland und für Europa bedeutet dies vor allem die Rückkehr eines starken Staates und vielleicht erstmals das Entstehen einer europäischen Solidarität durch einen von allen Ländern getragenen Hilfsfonds für von den Coronafolgen besonders betroffene Staaten. Entscheidend wird dabei sein, ob es gelingt, dass Europa sich als Solidaritätsgemeinschaft versteht und gemeinsam für den Wohlstand auf unserem Kontinent eintritt.

Dabei sollten wir aus Fehlern der Vergangenheit lernen und nicht wieder in die Logik früherer Instrumente verfallen. Denn die Konsolidierungsvorgaben im Rahmen des ESM nach der Bankenkrise haben gerade dazu geführt, dass in den südeuropäischen Staaten die Daseinsvorsorge auch im Gesundheitsbereich zusammengestrichen wurde.

Das rächt sich nun in der Corona-Krise. Noch sind wir in Europa nicht über den Berg, aber es gibt erste Anzeichen, dass die Lektion gelernt wurde – auch in Deutschland. Und: Jenseits der Tatsache, dass für die deutsche Wirtschaft ein funktionierender Binnenmarkt extrem wichtig ist, zählt für mich eins noch mehr: 75 Jahre nach Kriegsende muss ein solidarisches Europa die politische Verpflichtung für die Bundesrepublik Deutschland sein. Jetzt ist der Moment, an dem wir diese Solidarität ohne Wenn und Aber zeigen und leben müssen.

Ein starker Staat muss Bedingungen stellen

In Deutschland haben uns die letzten Monate gezeigt, dass uns nur ein starker Staat mit einer klaren Sozial- und Wirtschaftsordnung durch die Krise manövrieren kann.

Jetzt ist der Staat gefragt

Kurzarbeitergeld zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit, hunderte Milliarden Wirtschaftshilfen und Zuschüsse zur Stabilisierung unserer Wirtschaft beweisen gerade: Schuldenbremse, Maastricht-Kriterien, Outsourcings-Globalisierung sind verstaubte Ideologien eines wirtschaftlichen Denkens, das in Krisenzeiten nicht funktioniert.

Jetzt ist der Staat gefragt, mit Konjunkturprogrammen die Wirtschaft zu stützen. Dazu gibt es keine Alternative. Deshalb haben auch wir in Berlin schnell ein Milliardenprogramm aufgelegt, um die Lebensgrundlagen vieler Berlinerinnen und Berliner zu sichern. Diese selbstverständliche und wirtschaftliche Verantwortung als Staat muss jedoch an Bedingungen geknüpft werden.

Denn, wenn nach Jahren des Wirtschaftswachstums und der Rekord-Dividenden milliardenschwere Großkonzerne genauso schnell die Hand aufhalten wie der Soloselbstständige, dann muss zumindest die Frage erlaubt sein, welche Gegenleistung man von ihnen für die Unterstützung erwarten muss. Eine dieser Bedingungen ist zunächst einmal die Sicherung von Arbeitsplätzen.

Und doch droht vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Entlassung. Das darf der Staat nicht hinnehmen.

Denn wenn innerhalb von wenigen Wochen über Zehnmillionen Menschen in Kurzarbeit geschickt werden, dann wird der Staat vorübergehend der mit Abstand größte „Arbeitgeber“ des Landes. Und während die meisten Kurzarbeitenden – in Coronazeiten bedeutete das für viele monatelang 0-Stunden-Kurzarbeit – von 60 oder mit Kindern 67 Prozent ihres Gehaltes weiter ihre Mieten und Rechnungen bezahlen müssen, werden Arbeitgeber von Lohn- und Lohnnebenkosten entlastet.

Und doch droht vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Entlassung. Das darf der Staat nicht hinnehmen. Wer Kurzarbeitergeld oder Staatshilfen beantragt, der muss verpflichtet werden, Arbeitnehmer zu schützen.

Der Staat muss an seine milliardenschweren Hilfen Bedingungen knüpfen

Es ist für mich deswegen unverständlich, dass der Staat neun Milliarden Euro zur Rettung der Lufthansa investiert, ohne sich den Erhalt der Arbeitsplätze garantieren zu lassen und direkten Einfluss auf die Fluggesellschaft in Zeiten der Verkehrswende nehmen zu wollen.

Solidarität kann keine Einbahnstraße sein. Der Staat muss an seine milliardenschweren Hilfen Bedingungen knüpfen, die am Ende eine nachhaltig funktionierende und solidarische Volkswirtschaft schaffen helfen.

Zeit für den deutschlandweiten Mietendeckel

Dazu gehört auch, dass in diesen Zeiten jeder seinen Teil zu einer solidarischen gesamtgesellschaftlichen Krisenbewältigung beitragen muss. Da reicht es im Immobilienbereich nicht, nur Mietstundungen anzubieten. Wer monatelang von 60 Prozent seines Nettoeinkommens leben muss und vielfach in Metropolen durch Mieten schon vor der Corona-Krise übermäßig belastet wurde, wird lange seine Miete und Rückstände nicht noch obendrauf bezahlen können.

Der Staat muss auch hier handeln und Solidarität durch ein Gesetz für einen coronabedingten Mietenschnitt einfordern. Als ersten die Mieterinnen und Mieter entlastenden Schritt sollte die Bundesregierung einen deutschlandweiten Mietendeckel beschließen. In einer eng miteinander verstrickten Wirtschaft bedeutet das auch für Banken, dass sie zeitweise ihre Kreditforderungen gegenüber Immobilienbesitzern und Konzernen aussetzen müssen – zwölf Jahre nach der Bankenkrise mit Rettung durch den Staat sicher ein vertretbares Opfer.

Reform des Sozialstaates

Aber die Erfahrungen der Corona-Krise müssen zwangsläufig auch zu einem Ausbau des Sozialstaates und mehr Lohngerechtigkeit führen. Es ist richtig, die Leistung der sogenannten systemrelevanten Berufsgruppen hervorzuheben und wertzuschätzen, aber Folge muss auch sein, diese Berufsgruppen endlich dauerhaft ordentlich zu entlohnen.

Im Gesundheitssystem bedeutet das auch einen Systemwechsel weg von Fallpauschalen und Sparprogrammen hin zu gerechten Löhnen und seriösen Kostenberechnungen, die durch eine Bürgerversicherung von allen Bürgerinnen und Bürgern finanziert werden. Am besten als staatliche Daseinsvorsorge.

Durch Corona droht nicht nur große Arbeitslosigkeit, sondern es wird auch nur schleppend neue Jobs geben.

Dies im Wissen, dass die landeseigene Gesundheitsversorgung durch unsere Charité und Vivantes einen erheblichen Anteil daran hat, dass Berlin die Krise so gut bewältigt. Die Corona-Krise zeigt uns, wie wichtig ein starker Sozialstaat ist, beweist aber gleichzeitig, dass auch hier Veränderungen nötig sind.

Als ich 2018 neue Arbeitsmarktinstrumente wie das Solidarische Grundeinkommen forderte, hielten das vor allem konservative und wirtschaftsliberale Kritiker angesichts der guten Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage für vollkommen unnötig. Heute zeigt sich, dass der Gedanke, in guten Zeiten wirksame Instrumente für die Krise zu entwickeln, genau der richtige ist.

Durch Corona droht nicht nur große Arbeitslosigkeit, sondern es wird auch nur schleppend neue Jobs geben. Dass der Staat für arbeitslose Menschen gute Arbeit in gesellschaftsnahen Tätigkeiten anbietet, anstatt sie nach kurzer Zeit in Hartz IV abgleiten zu lassen, ist für mich gerade jetzt eine Selbstverständlichkeit für einen funktionierenden Sozialstaat.

Genauso wie der Verzicht auf Sanktionen. Zudem fordere ich ein Arbeitslosengeld, das die Arbeitsbiografien ausreichend berücksichtigt und für alle mindestens zwei Jahre bezahlt wird. Weiterhin brauchen wir eine für alle offene Grundsicherung, die zum Leben reicht, und einen Mindestlohn, der auch eine armutsfeste Rente ermöglicht. Ein Grund, warum wir in Berlin den Landesmindestlohn von 12,50 Euro eingeführt haben.

Finanzierung durch Steuergerechtigkeit

Und wer soll das alles bezahlen? Das wird jetzt die Frage all derer sein, die wie selbstverständlich gerade über Billionensubventionen reden. Ich bin sicher, es wird weiterhin Gewinne geben und es gibt trotz Corona viel Reichtum. Der Staat beteiligt sich mit den von allen erwirtschafteten Steuergeldern an der Rettung von Unternehmen.

Ich werde mich weiter in diese wichtige Diskussion einbringen, unser Staatswesen und unsere Wirtschaft krisenfester und fairer zu gestalten.

Gegebenenfalls wird er dadurch ein stiller Teilhaber, aber auf jeden Fall wird er Umverteilung gewährleisten müssen – aus zukünftigen Unternehmensgewinnen, auf Online-Finanztransaktionen und natürlich mit einer Vermögenssteuer, die endlich Steuergerechtigkeit schafft. Die Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise gibt uns die Möglichkeit, eine gerechtere Wirtschafts- und Sozialordnung zu schaffen.

Ich werde mich weiter in diese wichtige Diskussion einbringen, unser Staatswesen und unsere Wirtschaft krisenfester und fairer zu gestalten. Natürlich auch im Hinblick auf die Zeit ab Oktober dieses Jahres, wenn Berlin den Vorsitz der Ministerpräsidentenkonferenz innehat und diese und andere Fragen als Folge der Corona-Krise weiter eine große Rolle in der Abstimmung zwischen dem Bund und den Ländern spielen werden.

Autor:in

Michael Müller

Regierender Bürgermeister

Regierender Bürgermeister von Berlin und Mitglied des Berliner Abgeordneten­hauses.

zur Person
Michael Müller