Eingang zum KZ SachsenhausenSPD Berlin/Sebastian Thomas

Berliner Stimme 4|2020: „Erinnerungskultur ist schon längst digital“

KZ-Gedenkstätten wie Buchenwald, Bergen-Belsen und Sachsenhausen mussten wegen der Corona-Krise seit langem geplante Gedenkveranstaltungen absagen. Renée Röske ist Vorsitzende des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Berlin-Brandenburg und erklärt, was mit Erinnerungskultur passiert, wenn man sich nicht vor Zeitzeugen verneigen kann und welche anderen Formen des Gedenkens schon vor Corona entstanden sind.

Vor 75 Jahren wurden die wenigen Überlebenden des Holocausts aus den Konzentrationslagern oder aus den Verstecken befreit – wie im Fall meiner Großmutter. Sie kroch aus dem Gartenhaus mutiger Helfer in Köln, gemeinsam mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Ihre Eltern sah sie nie wieder. Die Überlebenden wurden nicht aus ihren Erinnerungen befreit.

Viele nahmen ihren Mut zusammen und erzählten ihre Geschichte. Es war nicht mehr eine Masse von sechs Millionen, sondern persönliche Schicksale. Jeder, der die Geschichte einer Überlebenden gehört hat, hat versucht, „es“ zu begreifen. Und hat verstanden, dass Unbegreifliches geschehen ist.

Renée Röske ist Vorsitzende des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Berlin-BrandenburgEvonik Industries AG
Renée Röske ist Vorsitzende des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Berlin-Brandenburg

Die Gedenkveranstaltungen würdigten bisher vor allem diese Einzelschicksale. In Zeiten von Corona wurde die Gedenkkultur vor neue Herausforderungen gestellt. Denn es war nicht möglich, in diesem besonderen Jahr, 75 Jahre nach deren Befreiung, vor Ort die Geschichte der wenigen lebenden Zeitzeugen zu hören.

Erinnerungskultur ist schon längst digital und damit sehr erfolgreich. Seit Jahren gibt es immer weniger Überlebenden. Schon nach den Dreharbeiten zu Schindlers Liste hat Steven Spielberg begonnen, die Geschichte von Überlebenden auf Video aufzunehmen. Mittlerweile sind es über 55.000 Videos in 32 Sprachen.

Blumen vor der Gedenkstätte des KZ Sachsenhausen.SPD Berlin/Sebastian Thomas
Blumen wurden vor dem Eingang zur Gedenkstätte Sachsenhausen abgelegt.

Auschwitz Museum hat Millionen Follower

Die Holocaust-Gedenkstätten nutzen Hashtags wie „Auschwitz75“. Das Auschwitz Museum hat fast eine Million Follower. Wie wichtig Aufklärung ist, zeigt die von der israelischen Botschaft in Berlin organisierte Video-Diskussion am Vorabend des Holocaust-Gedenktags. Der Überlebende Zvi Herschel wurde beim Erzählen seiner Geschichte von Antisemiten mit Bildern von Adolf Hitler, Hakenkreuzen und antisemitischen Slogans gestört.

Deswegen muss die Erinnerungskultur aufklären, aber zeitgemäß. Nur so erreicht man die Menschen. So wie eine Million meist junge Menschen der Instagram-Story über die 13-jährige Eva Heyman aus Ungarn, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde, folgten. Erinnerungskultur ist für mich aber keine Ritualisierung.

Es geht darum, dass Antisemitismus und Rassismus wirklich „nie wieder“ ihren Platz in Gesellschaft und Regierungshandeln finden.

Als jemand, der mit Holocaustüberlebenden den Küchentisch geteilt und gesehen hat, wie die Shoah ihr gesamtes Leben beeinflusst hat, geht es darum, dass Antisemitismus und Rassismus wirklich „nie wieder“ ihren Platz in Gesellschaft und Regierungshandeln finden. Warum am 9. November sich verneigen, wenn wir gleichzeitig im Netz nicht widersprechen, wenn unsere Facebook-Freunde wirre Verschwörungstheorien teilen?

Wieso „nie wieder“ sagen, aber schweigen, wenn Menschen oder Länder die Vernichtung des Staates Israels fordern? Erinnerungskultur kann jeder!

Autor:in

Reneé Röske

Vorsitzende des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Berlin-Brandenburg

Renée Röske ist Vorsitzende des Arbeitskreises jüdischer Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten Berlin-Brandenburg