SPD-Abgeordneter Orkan ÖzdemirSPD Fraktion/Sebastian Thomas

Interview mit Orkan Özdemir: „Ich habe zwei Leben gelebt“

Der Berliner SPD-Abgeordnete Orkan Özdemir empfängt uns in seinem Wahlkreisbüro in der Schmiljanstraße 17 in Friedenau. Was als Gespräch über Rassismus gedacht ist, entwickelt sich schnell auch zu einem Gespräch über die Vergangenheit des 39-Jährigen. Als Kind türkischstämmiger Einwanderer hat auch Orkan Özdemir Rassismus und Ablehnung erfahren. Gehindert haben ihn diese Erfahrungen nicht – im Gegenteil: Heute ist er Berufspolitiker. Im Interview fasst er an einer Stelle seinen bisherigen Werdegang in einem Satz zusammen: „Ich habe zwei Leben gelebt. Ich habe erst Ausgrenzung erfahren, jetzt bin Abgeordneter.“

BERLINER STIMME: Lieber Orkan, im Zuge des Krieges gegen die Ukraine sehen wir tagtäglich Bilder des Konflikts. Menschen fliehen Richtung Westen. Die Flüchtlinge erfahren viel Solidarität. Doch manche Medienvertreter:innen sprachen von Flüchtlingen mit „blondem Haar und blauen Augen“. Teilweise wurden Menschen mit schwarzer Hautfarbe an der polnischen Grenze nicht weitergelassen. Wie bewertest du das?

Orkan Özdemir: Die Mehrheitsgesellschaft ist von Rassismus nicht betroffen. Es ist interessant zu beobachten, dass es jetzt wirklich Leute gibt, die überrascht sind, dass bei Ukrainerinnen und Ukrainern die Bereitschaft größer ist sie aufzunehmen. Für mich war das von vornherein klar. Ich denke strukturellen Rassismus immer automatisch mit. Nichtsdestotrotz wäre es unfair würde ich sagen, dass es 2015 keine Solidarität mit den ankommenden Geflüchteten gab.

Es war eben nicht so umfassend, wie es jetzt ist. Die Mehrheit der Ukrainerinnen und Ukrainer haben wir in privaten Haushalten untergebracht. Das wäre bei syrischen Geflüchteten nie passiert. Anderes Beispiel: In der Stadt Cuxhaven gibt es einen Verein, der sich um Flüchtlinge kümmert. Dieser bat uns, dass wir geflüchtete Familien aussuchen. Später haben sie dann einen Bus geschickt, der sie nach Cuxhaven brachte.

Zusammen mit „Schöneberg hilft“ haben meine Mitarbeiter:innen und ich passende Kandidat:innen ausgesucht. Unter den ukrainischen Familien waren auch PoC-Familien. Eine davon aus Nigeria, eine andere aus Marokko. Anschließend fragte der Verein vor Ort nach, wer wen aufnehmen kann. Die beiden Familien aus Afrika haben keine Bleibe gefunden. Sie wollte keiner haben. Das war für mich jetzt auch nicht überraschend.

Rassismus ist ein integraler Bestandteil dieser Gesellschaft, es gehört zur DNA. Deswegen ist auch so schwer gegen Rassismus vorzugehen. Es gibt strukturellen Rassismus. Den kann ich sehen, identifizieren, analysieren, beweisen und dagegen Gesetze machen. Dementsprechend kann ich gegen strukturellen Rassismus viel schneller etwas tun als gegen gesellschaftlichen. Dieser ist nicht so, dass die Menschen sagen „Igitt, ein Schwarzer“, sondern sie haben einfach irgendwelche Bilder im Hinterkopf, die dazu führen, dass die erst mal instinktiv Nein sagen.

Gegen diese Art von Rassismus anzugehen, das ist schwer. Er ist schwieriger zu erkennen. Meistens kann man das auch nur schaffen, wenn man Begegnung schafft, also durch konkrete Erfahrung. Menschen, die so denken, sind auch nicht zwangsläufig Neonazis mit Glatze und Springerstiefel. Ebenso heißt rassistisch handeln auch nicht unbedingt, dass man selbst Rassist ist.

„Die Absage an die Familien aus Nigeria und Marokko ist die Realität in diesem Land – da brauchen wir gar nicht drumherum reden.“

Beim Thema Rassismus versuche ich die Mehrheitsgesellschaft immer ein bisschen abzuholen. Man muss dieses Bewusstsein für Rassismus bei den Ausführenden schaffen, weil sie es sich meistens überhaupt nicht bewusst sind. Sie sagen nicht, dass sie die schwarze Familie nicht wollen. Im Gegenteil, sie hören, wer da kommt und im Hinterkopf übergehen sie einfach die Familie aus Nigeria. Das ist schade, weil es tolle Leute sind. Bei der nigerianischen Familie haben beide Elternteile an der Universität studiert und gearbeitet. Aber die Absage an diese Familien ist die Realität in diesem Land. Da brauchen wir gar nicht drumherum reden.

Am ersten Tag des Krieges hast du bereits mit einem größerem Flüchtlingsstrom aus der Ukraine gerechnet. Du hast appelliert, dass man sich um die ankommenden Menschen kümmert – Stichwort: sicherer Hafen Berlin. Welches Fazit ziehst du, wenn du auf die Versorgung der ukrainischen Flüchtlinge schaust?

Als ich das gesagt habe, bin ich nicht davon ausgegangen, dass es so heftig wird. Putin und die Russen dachten natürlich, dass sie den Krieg in drei Tagen gewinnen. Das die Ukraine dementsprechend schnell kapituliert. Man erwartete, dass die Auseinandersetzung nicht so lange dauern kann. Immerhin ist die ukrainische Armee 20-mal so klein. Vier Tage nach Kriegsausbruch kamen die ersten Geflüchteten nach Berlin. Mit ihnen habe ich gesprochen und unter anderem die Frage gestellt, wann ihre Männer hinterherkommen.

Die Antworten von den Müttern waren überwiegend identisch: „Nein, die werden in der Ukraine für unser Land sterben.“ Da war viel Pathos mit im Spiel, man bekam eine Gänsehaut. Ab diesem Zeitpunkt wusste ich, dass dieser Krieg länger dauern wird. Mit der Länge des Krieges hat die Zerstörung unglaublich zugenommen. Das sehen wir jetzt an Mariupol, Odessa, Charkiw. Da steht nichts mehr. Mittlerweile sehen die Städte teilweise aus wie Aleppo. Das heißt für uns, dass die Geflüchteten hierbleiben werden.

Wir sollten uns auch nichts vormachen: In 20 Jahren werden wir ganz viele junge Ukrainerinnen und Ukrainer haben, die bei uns an die Unis gehen, das Abitur machen oder ihre Ausbildung absolvieren. Bis dahin müssen wir verschiedene Dinge klären. Die Unterbringung läuft in Berlin auf Hochtouren. Die soziale Absicherung der Geflüchteten läuft bald über das SGB II. Die nächste Frage dreht sich um Schulplätze und Unterricht.

Da sind diese ganzen Kataloge an Fragen, die wir abarbeiten müssen, damit wir Geflüchteten zeigen, dass wir wollen, dass sie Teil dieser Gesellschaft werden. Wir müssen diesen Menschen schnell eine Perspektive geben. Wenn wir das hinbekommen, dann schaffen wir eine schnelle Identifikation mit unserem Land.

Bei einer Polit-Talkshow saßen kurz nach Kriegsbeginn unter anderem der Journalist Gabor Steingart und der ehemalige NATO-General Hans-Lothar Domröse. Ersterer ordnete die ukrainischen Geflüchteten unserem Kulturkreis zu und identifizierte sie als Christen. Hans-Lothar Domröse meinte, dass es sich bei den Geflüchteten von 2015 um „wehrfähige, junge Männer“ handelte, „die eigentlich ihr Land verteidigen sollten“. Bei der Ukraine sei das anders: Ukrainische Männer würden ihre Heimat gegen die russische Armee verteidigen, während die Frauen, Mütter, Kinder gehen.

Das ist einfach plump und ein absurder Vergleich. Irak und Syrien sind Vielvölkerstaaten. Das ist zwar bei der Ukraine ebenso der Fall, jedoch spielt Religion in Syrien und im Irak eine ganz andere Rolle. In beiden Ländern gab es zwischen verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen Binnenkonflikte. Das ist eine andere Komplexität. Auf die beschwerliche Reise aus Syrien oder Afghanistan nach Europa haben Eltern immer ihre stärksten Jungs losgeschickt. Wenn sie angekommen sind, sollten sie alles organisieren und die Familie nachholen. Das war immer die Idee dahinter. Allein das man das jetzt noch mal rechtfertigend sagen muss, finde ich schon peinlich. In der Ukraine haben wir eine andere Situation.

„Meine Lehrerin meinte nur, dass ich höchstens mit der Polizei in Berührung komme, wenn sie mich abführen. Sie fand das witzig.“

Deine Themen sind Integration, Antirassismus, Teilhabe und Flucht. Warum eigentlich? Ist es deine Vergangenheit, vielleicht gar deine Tochter? Ihr musst du schließlich irgendwann die Welt erklären und warum manche Menschen andere Menschen unter anderem aufgrund ihrer Hautfarbe meiden oder gar angreifen.

Es ist eher meine Vergangenheit. Das was ich heute mache ist ein Wunder. Niemand hätte das erwartet. Ich will es mal so sagen: Das wirklich Tückische am Zusammenspiel von systemischem und gesellschaftlichem Rassismus ist die Täter-Opfer-Umkehr. Das System sagt dir als Mensch, der aus einem bestimmten Milieu kommt, dass du an deiner Situation selbst schuld bist. Du bist entweder nicht gut, nicht klug oder nicht angepasst genug.

Deswegen geht es dir schlecht. Ein Beispiel: Als ich zur Schule ging, fand einmal eine Veranstaltung zur Berufsorientierung statt. Dort gab es auch einen Infostand der Polizei und ich war interessiert am Polizeidienst. Meine Lehrerin meinte nur, dass ich höchstens mit der Polizei in Berührung komme, wenn sie mich abführen. Sie fand das vielleicht lustig, aber für mich hatte das gesessen. Für mich war auch klar, wenn ich nicht Polizist werde und nur von ihnen irgendwann festgenommen werde, dann ist die Polizei auch nicht mein Freund.

Ich bin im Pallas (Kiez an der Pallas-Straße im Schöneberger Norden; Anm. d. Red.) großgeworden. Daneben liegt der Winterfeldtplatz, auch ein eigenes Quartier. Einer der beliebtesten Kieze Berlins und richtig teuer. Wenn ich früher mit meinen Freunden über die falsche Straße gelaufen bin, kamen gleich die Zivilpolizisten mit ihrer Marke und haben dich nicht wie heute vielleicht gefragt, sondern direkt auf den Boden gedrückt. Das waren konstante und ständige Herabwürdigungen.

Kinder und Jugendliche nach uns sollten das nicht erfahren. Also fingen wir an sie von der Straße zu holen: durch Fußball, Kampfsport, Breakdance. Wir waren die ersten Streetworker, ohne es zu wissen. Heute kann ich sagen: Ich habe zwei Leben gelebt. Ich habe erst Ausgrenzung erfahren, jetzt bin Abgeordneter.

„Das erste Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl, dass ich die Welt ein bisschen besser verstehen würde.“

In deiner Kindheit und Jugend hast du Rassismus erfahren, dann viel später wurdest du Politiker. Was liegt dazwischen?

Ich habe irgendwann einen Freund von früher getroffen. Als ich ihn fragte, was er so macht, antwortete er, dass er zur Arbeit geht. Auf seinem Hemd stand das Logo eines Mobilfunkanbieters. Er erzählte, dass er jetzt Filialleiter ist und Handyverträge macht. Dann fragte er, ob ich nicht bei ihm arbeiten möchte, was ich auch tat. Das war ein wichtiger Schritt in meinem Leben. Ich hatte zum ersten Mal etwas gefunden, was ich konnte.

Außerdem hatte ich sehr viel Kundenkontakt mit weißen Menschen. Ich war vorher nicht in einem weißen sozialen Umfeld unterwegs. Doch um zu verkaufen, musst du natürlich den Habitus deines Gegenübers ein wenig annehmen. Das habe ich so gut gemacht, dass ich irgendwann zu den besten drei Verkäufern deutschlandweit gehörte. Später habe ich noch für andere Verkäuferinnen und Verkäufer Workshops gegeben.

Das war ein Wendepunkt in meinem Leben. Ich habe gesehen, dass es noch was anderes gibt außer mein Viertel. Dann habe ich meine Frau kennengelernt. Sie ist ein großes Glück, weil sie mir immer mal wieder den Kopf wäscht und mich auf Kurs hält.

Er vertritt gerne die Ideale seiner Partei. Doch sie durchdringt nicht sein gesamtes Leben. „Ich habe immer darauf geachtet, dass ich da nicht zu tief reinrutsche“, erzählt er. Die Berliner SPD sei nicht der Inbegriff seines Lebens. Sein soziales Umfeld bestehe aus Menschen, die mit Politik oder mit Parteien überhaupt nichts zu tun haben. „Das erdet dich auch enorm“, findet er.

Alles gut möchte man sagen.

Könnte man sagen, doch nach drei Jahren wollte ich etwas anderes machen. Die Arbeitsbedingungen hatten sich zwischenzeitlich verschlechtert. Ich habe mein Abi nachgeholt und wollte studieren. Später besuchte ich eine Vorlesung von Elmar Altvater (ehemaliger Professor für Politische Ökonomie am Otto-Suhr-Institut an der FU Berlin; Anm. d. Red.). Die Veranstaltung war für Erstsemester und Altvater sprach über den französischen Gelehrten Pierre Bourdieu.

Dabei fasste er die Theorien des Soziologen so gut und simpel zusammen, dass ich am Ende der Vorlesung das erste Mal in meinem Leben das Gefühl hatte, als ob ich drei Zentimeter gewachsen wäre und die Welt ein bisschen besser verstehen würde. Mich hat das richtig angefixt. An diesem Punkt war für mich klar, dass ich Politikwissenschaften studieren möchte.

Das Problem war nur: Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt, außer während meines Abiturs Effi Briest von Fontane, nie ein Buch in meiner Hand gehalten, geschweige denn gelesen oder wissenschaftlich gearbeitet. In meiner ersten Hausarbeit bin ich direkt durchgefallen. Meine damalige Dozentin fragte mich, ob ich überhaupt studieren möchte.

Hat dich das entmutigt?

Im Gegenteil. Früher beim Diplom konntest du entscheiden, ob du zu je 50 Prozent Hausarbeiten und Klausuren schreibst oder nur Hausarbeiten. Ich wollte nie irgendwelche Tests schreiben. Bei der zweiten Hausarbeit fiel ich durch, die dritte war schon etwas besser. Ich bin am Anfang eines jeden Semesters zu den Dozenten gegangen. Ich wollte früh mein Thema haben, über das ich schreiben soll, denn ich brauchte eben länger.

Wo andere drei Wochen an ihrer Hausarbeit schrieben, brauchte ich sechs Wochen. In meinem ganzen Grundstudium habe ich 37 Hausarbeiten geschrieben. Das Lustige war, dass man die Verbesserungen regelrecht sehen konnte: Erst 3,8, danach 3,5 und 3,2. Meine letzte Hausarbeite habe ich mit einer 1 bestanden. Anders als heute beim Bachelor hast du damals das Grundstudium bestanden und beim Hauptstudium fing alles wieder von vorne an.

Die vorherigen Noten waren egal. Doch dann konnte ich es. Nun wollte ich mein Diplom mit einer 1 abschließen und das tat ich. Das war krass. Bis ich mein Grundstudium abgeschlossen hatte, wusste niemand, dass ich studiere – noch nicht einmal meine Eltern. Ich hatte einfach Angst, dass, wenn ich scheitere, es heißen könnte, ich hätte etwas angefangen und nicht beendet. Als ich mein Grundstudium erfolgreich beendete, haben sich meine Eltern gefreut.

Wann bist du in die SPD eingetreten?

Das war noch während meines Studiums. Bevor ich in die SPD eingetreten bin, ging ich zu den Jusos. Das war eine traumatische Erfahrung. Das waren nur Studierende. Ich kam da an mit gezupften Augenbrauen, braun gebrannt, Boxerhaarschnitt und saß da und alle schauten mich ganz komisch an, keiner grüßte mich. Dann war für mich klar, in so eine Truppe gehe ich nicht. Heute sind die Jusos mit Sinem (Sinem Tasan-Funke, Berliner Vorsitzende der Jusos; Anm. d. Red.) natürlich anders.

Jetzt hätten sie mich wahrscheinlich mit wehenden Fahnen willkommen geheißen, aber zu der Zeit war das so. Meine jetzige Abteilungsvorsitzende hat schon zur damaligen Zeit gesagt, dass sie junge Leute brauchen, die wirklich wissen, was da los ist auf der Straße. Wir sind bis heute gut befreundet. Für mich ist sie sowas wie eine Partei-Mama. Als Parteimitglied wurde ich Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Migration in Tempelhof-Schöneberg.

SPD-Abgeordneter Orkan ÖzdemirSPD Berlin/Sebastian Thomas
Erst die Tür vor der Nase zugeschlagen und dann: „Nach drei Monaten Wahlkampf machten mir die Leute Tür auf, begrüßten mich freundlich und wir kamen ins Gespräch“, erzählt Orkan Özdemir.

Da ich nicht so parteisozialisiert war, hatte ich ganz andere Vorstellungen wie so eine AG arbeiten muss. Wir wurden dann berlinweit die größte Berliner SPD Arbeitsgemeinschaft Migration und Vielfalt. Normalerweise arbeiten AGs immer in die Partei, doch ich habe nach außen gearbeitet. Wir wollten die Leute da draußen erreichen. Ich habe dann einen Verteiler in Schöneberg mit 2.000 E-Mailadressen von Organisationen aufgebaut und wir haben zu unseren Veranstaltungen eingeladen.

Da kamen bis zu 150 Leute. Das war auch der Moment, wo ich den Ruf bekam, dass der Orkan politisch ernst zu nehmen ist, weil er die Leute erreichen kann. So baute ich mir ein Profil auf. Mir war wichtig, dass ich aus jedem Block oder aus jeder Strömung Menschen in meinem Team hatte, weil ich diese Flügelkämpfe nicht ausfechten wollte. Wir hatten ein Thema und das haben wir bearbeitet. Als AG Migration haben wir beispielsweise „Friedenau hilft“ mit aufgebaut und das Willkommensbündnis Tempelhof-Schöneberg initiiert.

 „Ich übertreibe jetzt nicht, wenn ich sage, dass ich an jeder zweiten Tür geklopft habe.“

Du warst acht Jahre Vorsitzender der AG Migration und seit 2012 Bezirksverordneter der BVV in Tempelhof-Schöneberg. Dann wolltest du Abgeordneter werden?

Nach zehn Jahren in der BVV war ich müde. Meine Themen sind keine Bezirksthemen. Integration, Teilhabe und Sicherheit sind eher auf der Landesebene orientiert und organisiert. Die BVV war nichtsdestotrotz sehr wichtig. Dann trat Dilek (Dilek Kalayci, ehemalige Berliner Gesundheitssenatorin, Anm. d. Red.) bei der vergangenen Wahl nicht mehr an. Ich fand das schade. Wir hatten uns schon auf den Wahlkampf vorbereitet.

Später fragten mich verschiedene Leute, ob ich mir vorstellen könnte zu kandidieren. Ich sagte nicht sofort zu, sondern wollte mit meiner Frau, einer meiner besten Freundinnen, und anderen Leuten darüber sprechen. Für meine Frau und mich war das Problem, dass wir schon die ganze Zeit Drohungen bekamen.

Orkan Özdemirs Familie und er mussten umziehen – mehrmals. Drohungen aus dem rechten Milieu häuften sich. Das war auch ein Grund, warum er sich eine Zeitlang mit seinem Engagement gegen rechts zurückhält. Als Abgeordneter änderten sich seine Themenfelder – die Anfeindungen gegen seine Person und Politik bleiben. Die Bedrohungslage ist weiterhin da. Mehrmals am Tag fährt ein Auto der Polizei vor seinem Büro – wie auch mitten im Interview. Orkan Özdemir schaut kurz, hebt die Hand, winkt und schon ist der Wagen mit dem Polizisten darin auch schon wieder weg.

Uns war bewusst, dass wir durch meine Kandidatur noch mehr in den Fokus rücken. Thematisch war auch klar, was ich bearbeiten werde, nämlich Kampf gegen Rassismus und gegen Nazis. Deshalb habe ich zu meiner Frau gesagt, dass das meine Themen sind und die werde ich bearbeiten, ansonsten mache ich das nicht. Sie antwortete, ich sollte das tun, weil es meiner Leidenschaft entspricht. Ein weiteres Problem war, dass ich einen hinteren Listenplatz bekam, heißt also: Die ganzen Prognosen standen gegen mich.

Deshalb sagte ich mir: Es ist Sommer, lasst uns Spaß haben. Wir haben anschließend T-Shirts mit meinem Logo bestellt, Joggingrunden organisiert, Flyer gesteckt, an 15.000 Türen geklopft. Wir haben ein Jahr vorher mit Wahlkampf angefangen und so konnten wir uns durch den Wahlkreis einmal durcharbeiten. Wir sind, ungelogen, von Tempelhof bis Wilmersdorf gelaufen. Ich übertreibe jetzt nicht, wenn ich sage, dass ich an jeder zweiten Tür geklopft habe.

Im Team würde ich sogar sagen an jeder Tür, 15.000 Haushalte. Schnell wussten wir über die Probleme der Menschen Bescheid. Teilweise leben manche Leute in Genossenschaftswohnungen. Die haben mit Mieten und dergleichen kein Problem. Dann sprichst du mit Menschen, die vor dir auf die Knie fallen und weinen, weil sie Angst haben ihre Wohnung zu verlieren.

„Mein Co-Abteilungsvorsitzender sagte zu mir: ‚Orkan, du bist ein richtig dufter Typ und die Leute müssen sich kennenlernen. Wenn die Leute dich kennen, wissen, wer und wie du bist, dann wählen sie dich.‘“

Friedenau ist bürgerlich und weiß – war das für dich als türkischstämmiger Mann im Wahlkampf eine Herausforderung?

Ich wohnte seit zehn Jahren in Friedenau. Das sind meine Nachbarn. Ich verstehe mein Mandat als der Mensch, der hier lebt und für seine Mitmenschen da ist. Ich laufe durch die Straßen und mich halten Menschen an und erzählen mir, was in ihrem Leben passiert. Meine Funktion im Parlament und in meinem Wahlkreis muss man voneinander trennen. Ich mag die Leute hier einfach. Im Wahlkampf hatte ich großes Interesse jeden Menschen hinter jeder Tür kennenzulernen. Ich wollte wissen, was sie für einen Charakter haben, was ihre Wünsche sind, vor was sie Angst haben? Ich hatte keine Situation, in der ich keine Lust hatte, von Tür zu Tür zu laufen. 

Welche Resonanz hattest du?

Am Anfang haben sie mir die Tür vor der Nase zugeschlagen. Doch dann, ich sag mal so: Mundpropaganda kannst du nicht kaufen. Das ist das Wichtigste, was es gibt. Das sind hier kleine Kieze. Alles spricht sich so schnell rum, vom Bäcker zum Schuhmacher und so weiter. Nach drei Monaten Wahlkampf machten mir die Leute Tür auf, begrüßten mich freundlich und wir kamen ins Gespräch. Am Ende des Wahlkampfs haben die Leute mir geschrieben und mich gebeten, doch auch mal bei ihnen vorbeizukommen. Kinder wollten mit mir Fotos machen, ich sollte Flyer unterschreiben. So hatte ich das Gefühl entwickelt, dass es mit meiner Wahl funktionieren könnte.

„In zehn Jahren kann keine Partei mehr einen Wahlkampf in Berlin gewinnen, die nicht auf Menschen mit Einwanderungsgeschichte eingeht.“

Hielt dieses gute Gefühl an?

Klar ist man erst mal vorsichtig. Es kann auch immer deine eigene Blase sein. Doch ich bin im Wahlkampf oft auf Menschen getroffen, die der SPD und mir sehr kritisch gegenüberstanden. Wir haben dann gequatscht und es war nie so, dass ich den Leuten nach dem Mund geredet habe. Ich lass den Leuten ihre Meinung, dann kommen wir eben nicht zusammen, ist auch in Ordnung. Nach jedem Gespräch war es so, dass die Menschen mir versicherten, dass ich ihre Stimme sicher hätte.

Als Wahlkämpfer will man das nicht überbewerten. Es gab noch diese ganzen Angriffe auf meine Plakate. Wir hatten 400 Plakate aufgehängt, am Ende haben wir 170 wieder abgebaut. Man fragt sich, ob es eine generelle Haltung ist oder doch nur eine einzelne Meinung. Doch ich bin auch nie mit dem Gefühl angetreten, ich muss das jetzt unbedingt gewinnen. Daran wäre ich auch kaputtgegangen. Was ich weiß, dass ich immer so Wahlkampf mache, dass ich direkt gewinnen will.

In den schlimmen Stunden meiner Abgeordnetentätigkeit ist das auch meine Motivation, nämlich dass ich von 9.000 Menschen gewählt wurde. Übrigens, wenn ich einmal zu viel arbeiten würde, habe ich Menschen in meinem sozialen Umfeld, die sehr aufmerksam sind und mir auch ehrlich sagen würde, dass ich mich überarbeite.

Rückblick: In der Wahlnacht am 26. September 2021 sah es mit der ersten Prognose um 18 Uhr noch so aus, als bekäme das Rote Rathaus zum ersten Mal eine grüne Regierende Bürgermeisterin. Da sei es kurz still geworden, erinnert sich Orkan Özdemir. Im weiteren Verlauf des Abends änderte sich das Bild: Die SPD blieb stärkste Kraft in Berlin – und Orkan Özdemir feierte seinen bis dato größten politischen Triumph: „Als die Einzelergebnisse ausgezählt wurden erschien auf dem Bildschirm der Wahlkreis 3 in Tempelhof-Schöneberg“, erzählt Orkan Özdemir. „Da ging die rot eingefärbte Säule hoch, hoch, hoch, hoch – da waren 25 Prozent der Stimmzettel ausgezählt.“ Als später 70 Prozent ausgezählt sind steht fest: Der 40-Jährige zieht per Direktmandat in das Berliner Abgeordnetenhaus ein. Zu diesem Zeitpunkt ist er seit 12 Jahren in der Partei aktiv.

Dein Wahlkampf war anstrengend. Hast du denn das Gefühl gehabt, dass du als BPoC mehr leisten musst als ein Mensch mit weißer Hautfarbe?

Ich wurde gewählt, weil mich einfach Tausende Menschen persönlich kennengelernt haben. Abgesehen von Tür zu Tür war ich die ganze Zeit auf der Straße und habe die Leute auf der Straße einfach angesprochen. Mir war klar, dass die Menschen mein Bild sehen, meinen Namen lesen und erst mal ein eigenes Bild von mir haben. Das sind meistens Bilder, die rassistisch beziehungsweise vorurteilsbehaftet sind: Ah, der Türke. Ah ja, der Muslim, seine Frau sitzt sicher zu Hause mit Kopftuch in der Ecke und darf nicht raus.

Also alle möglichen Vorurteile, die man eben über Muslime oder Türkeistämmige haben kann. Die Herausforderung war eine Strategie zu entwickeln, die den Menschen ein anderes Bild vermittelt. Mein Co-Abteilungsvorsitzender sagte zu mir: „Orkan, du bist ein richtig dufter Typ und die Leute müssen sich kennenlernen. Wenn die Leute dich kennen, wissen, wer und wie du bist, dann wählen sie dich.“ Und das haben wir gemacht. Ganz simpel.

„Ich sag mal so, tut mir leid, lieber Rassist, deine Tochter wird sehr wahrscheinlich einen Menschen mit Migrationsgeschichte nach Hause bringen.“

Du musstest aufgrund deines Aussehens und deines Namens zeigen, dass du nicht so bist, wie die Leute annehmen.

Ich musste mich beweisen. Ich musste die Annahmen, die sie haben korrigieren. Das war mir von vornherein bewusst. Deswegen habe ich so einen aufwendigen, auch körperlich und psychisch anstrengenden Wahlkampf gemacht. Ich hatte durch meine Tätigkeit in der Innenverwaltung 530 Überstunden. Ich habe mir so Urlaub genommen, dass ich zwei Tage gearbeitet und drei Tage frei hatte. An den freien Tagen habe ich Wahlkampf gemacht.

Dann, sechs Monate vorher, habe ich mir freigenommen. Ich habe durchgezogen. Jeden Tag, auch sonntags. Ich hatte am Anfang des Wahlkampfs ein Team von sieben Mann. Am Ende gab es eine Abschlussparty nur für die, die wirklich Wahlkampf gemacht haben: Da waren wir 60 Leute. Ich hatte einfach Spaß am Wahlkampf und irgendwann fällt das ja auch auf, Menschen kommen zu dir, fragen, ob sie dir bei der nächsten Aktion helfen können.

Dann sind sie da und bringen beim nächsten Mal Freunde, Freundinnen, Schwestern und Brüder mit. Ich hatte keine Agentur, sondern Helferinnen und Helfer, die so verschiedene Sachen konnten und mir halfen. Es war einfach krass.

Orkan Özdemir bezeichnet die derzeitige Zusammensetzung des Berliner Abgeordnetenhauses in einem Instagram-Post „als das diverseste Parlament aller Zeiten“. Das hat einen Grund: Teilweise kenne er die BPoCs (Black, Indigenous, and People of Color; Anm. d. Red.), die für die Grünen und Linken ins Parlament eingezogen sind seit zehn bis 15 Jahren. Alle 20 Abgeordneten der Rot-Grün-Roten Regierungskoalition haben eine Zuwanderungsgeschichte vorzuweisen und Rassismus erlebt. Nun haben sie einen fraktionsübergreifenden Zusammenschluss gebildet. Man vertraue sich und sei eng befreundet. Es sei eine besondere Atmosphäre, die sich vor allem dann äußert, wenn eine oder ein Abgeordnete/r aus dieser Gruppe spricht und alle anderen applaudieren. „Wenn wir politische Ziele haben, wie beispielsweise in Sachen Antidiskriminierung, dann treffen wir uns, sprechen das ab und dann geht jeder in seine Fraktion“, erklärt er.

Ein Blick in die Zukunft: Was müssen wir tun, um als Gesellschaft mit all seiner Vielfalt zusammenzuwachsen?

Das geht jetzt an alle bewussten Rassisten da draußen. Dieses bunte, vielfältige, diverse Berlin kann niemand mehr aufhalten, weil es kommt, ob es ein Rassist will oder nicht. Nochmal sei gesagt, dass 53 Prozent der unter Sechsjährigen und 48 Prozent der unter 21-Jährigen haben familiäre Einwanderungsgeschichte. Das heißt im Umkehrschluss, in zehn Jahren kann keine Partei mehr einen Wahlkampf in Berlin gewinnen, die nicht auf diese Gruppen eingeht.

Was sollten wir tun? Wir müssen ein Gemeinschaftsgefühl entwickeln, wo diese Menschen inklusiv sind. Ich werde immer gefragt, welche Konzepte wir entwickeln müssen. Doch das brauchen wir gar nicht, sondern es reicht ein Blick auf die Statistiken und die Demografie. Ich sag mal so, tut mir leid, lieber Rassist, deine Tochter wird sehr wahrscheinlich einen Menschen mit Migrationsgeschichte nach Hause bringen.

Wenn die Vielfalt größtenteils durch den demografischen Wandel kommt, können wir uns dann, salopp ausgedrückt, entspannt zurücklehnen.

Im Gegenteil, wir müssen dafür Sorge tragen, dass diese Menschen im System abgebildet werden und eben nicht strukturellen Rassismus erfahren. Tun wir das nicht, gefährden wir ganz schnell den gesellschaftlichen Frieden. Wenn du eine kritische Masse an Menschen hast, die von Rassismus betroffen sind und die systemisch diskriminiert werden, dann gefährdet das den gesellschaftlichen Frieden. Kein Frieden heißt nicht Bürgerkrieg, sondern einfach ein Unmut in der Gesellschaft und eine Stimmung, die einfach nicht zuträglich ist für ein schönes Leben.

Deswegen ist sehr wichtig, dass wir die Verwaltung, öffentlichen Dienst, Polizei, Feuerwehr divers aufstellen, damit sich die Menschen dort wiederfinden. Über den Rest, also dieser ganze Nonsens des Völkeraustausches, kann ich nur müde lächeln. Völker, Nationen, Ethnien, die zusammenkommen werden, immer etwas Neues bilden. Ich verstehe die Angst davor nicht. Ich bin türkischstämmig. Theoretisch müsste ich auch Angst haben, weil diese Gesellschaft durch ganz viele Einflüsse verändert wird.

Ich habe keine Furcht, dass Türkisch sein bei meiner Tochter oder bei meinen Enkeln nicht mehr vorhanden ist. Dann kommt was Neues. Die meisten meiner Freunde sind mit deutschen Frauen und deutschen Männern zusammen. Alles mischt sich und es entsteht einfach was Neues. Ich als Politiker muss mir die Frage stellen: Wie schaffe ich einen Staat, der für diese Vielfalt bereit ist? Ein Gebilde, in dem sich alle wiederfinden. Ich für meinen Teil möchte mein Bestes leisten, damit es mit der Gesellschaft vorangeht.

Lieber Orkan, ich danke dir für das Gespräch.

Autor:in

Sebastian Thomas

Redakteur der BERLINER STIMME und des vorwärtsBERLIN