Brauchen wir eine stärkere ostdeutsche Perspektive im öffentlichen Diskurs? Die Journalistin Jana Hensel plädiert dafür und liefert in ihrer Textsammlung „Wie alles anders bleibt“ glänzende Beispiele dafür, dass Interessensausgleich auch eine Frage der Erzählweise ist.
Nach drei Jahrzehnten gesamtdeutscher Geschichte hat es den Anschein, als rissen in den aktuellen gesellschaftlichen Debatten alte Wunden neu auf, als müsse das Verhältnis zwischen Ost und West, das Verständnis für die jeweils unterschiedlichen Biographien der Menschen auf beiden Seiten der Mauer und die Verletzungen der Wendezeit neu verhandelt werden. Der Schein trügt. Vielmehr gibt es valide Anzeichen dafür, dass eine echte empathische Auseinandersetzung mit den Lebensrealitäten, Empfindungen und Komplexen in der Wechselwirkung zwischen Ost und West bis heute nicht wahrhaftig stattgefunden hat.
Jana Hensel, geboren 1976 in Leipzig, Anfang des Jahrtausends gefeiert für ihr Generationenpsychogramm „Zonenkinder“ und seither als Journalistin unter anderem für die ZEIT beständige Stimme für die Wahrnehmung der ostdeutschen Binnensicht im öffentlichen Diskurs, legt mit „Wie alles anders bleibt. Geschichten aus Ostdeutschland.“, eine Anthologie ihrer journalistischen Texte mit Ostbezug vor. 48 Texte umfasst Hensels Buch, nach Erscheinungsdatum sortiert, angefangen mit dem jüngsten. Neben Interviews mit Angela Merkel, Alexander Osang und Julia Franck finden sich Auseinandersetzungen mit dem NSU und der NPD, Reflektionen zum 17. Juni 1953 und den 3. Oktober als Feiertag, Beobachtungen über den Prenzlauer Berg, ostdeutsche Melancholie und deutsch-deutsche Liebesbeziehungen. Hensel schreibt über den aus Jena stammenden Fußballtorwart Robert Enke, der 2009 Suizid beging und dessen Tod eine Debatte über den Umgang mit Depressionen weit über den Profisport hinaus auslöste und über die Chemnitzer Band Kraftklub und ihren Frontman Felix Kummer, der mit KIOX gerade ein viel beachtetes Album veröffentlichte, das an die Spitze der deutschen Albumcharts stürmte und in dessen Texten sich Kummer mitunter ebenfalls ostdeutschen Realitäten widmet.
Das Potpourri an Inhalten, die Hensel findet, um Ostdeutschland in der Bitterkeit seiner gegenwärtigen psychischen Verfassung zu beschreiben, ist trotz seiner Vielfalt alles andere als beliebig. Vielmehr öffnet sich das Fenster zu einem kulturellen Gedächtnis, das einem relevanten Anteil der deutschen Bevölkerung als soziokulturelle Grundlage der eigenen Identität dient, das aber zu wenig mit der historischen Deutungshoheit Gesamtdeutschlands korreliert. Die diskursive Wirklichkeit der Filter- blasen und subjektiven Meinungs- schärfen wird durch dieses Buch einem harten Test unterzogen, sofern die Bereitschaft besteht, sich darauf einzulassen. Nach den Friedenspreisträgern des Deutschen Buchhandels des Jahres 2018, dem Kulturwissenschaftler-Ehepaar Aleida und Jan Assmann, sind das kulturelle sowie das kommunikative Gedächtnis Bestandteile des kollektiven Gedächtnisses.
Wenn dieses Buch es schafft, das kommunikative Gedächtnis unserer Gesellschaft wenigstens partiell um eine ostdeutsche Sichtweise zu ergänzen, die reflektiert, klug und selbstkritisch vorgetragen ist, hat Jana Hensel schon viel erreicht.
Jana Hensel: „Wie alles anders bleibt – Geschichten aus Ostdeutschland“
Klappenbroschur, 317 Seiten Aufbau Verlag ISBN: 978-3-351-03482-5 16,– Euro
Felix Bethmann
Schreibt für die BERLINER STIMME und den vorwärtsBERLIN