Berliner Stimme 4|2020: Kulturtipp: Wofür jetzt Zeit ist

Gegenwärtig sind dem abendlichen Aus­geh­programm immer noch erhebliche Grenzen gesetzt. Restaurant­besuche, Kino­filme und Theater­vorstellungen müssen situations­bedingt hinter der heimischen Couch zurückstehen. Auch für die Abend­unter­haltung zu Hause ist Abhilfe jedoch nicht weit – drei Streamingtipps.

Call Me by Your Name

Selten vermögen Filme eine Atmosphäre zu erzeugen, die ein unmittelbares und anhaltendes Glücksgefühl schafft, als wäre man noch einmal Teenager und die Sommer scheinbar unendlich und bedeutsamer als je zuvor und niemals danach. Regisseur Luca Guadagnino ist mit „Call Me by Your Name“dieses Kunststück gelungen.

Die Geschichte des 17-jährigen Elio, der sich 1983 auf dem Landsitz seiner Familie in Norditalien zunächst mit dem 24-jährigen Doktoranden Oliver anfreundet, bald aber tiefere Gefühle für ihn entwickelt und gleichzeitig erste sexuelle Erfahrungen mit der jungen Französin Marzia erlebt, ist eine in warmen Bildern und mit klugen Dialogen gespickte Coming-of-Age-Geschichte nach dem gleichnamigen Roman von André Aciman.

Mit herzzerreißender Tiefe verkörpert Timothée Chalamet den anrührend forschen Elio. Eine grandiose Leistung, für die er zu Recht eine Oscarnominierung als bester Hauptdarsteller erhielt. Der vom brillanten Sufjan Stevens komponierte und ebenfalls oscarnominierte Soundtrack ergänzt ein emotionales Filmerlebnis, das alle begeistern wird, die sich nach Sommerurlaub sehnen, aber auch ein bittersüßes Gefühl mit (un-)glücklichen Liebesbeziehungen verbinden – oder einfach wirklich gute Filme mögen.

„Call Me by Your Name“ ist zum Stream auf Netflix verfügbar.

Nicht länger nichts – Geschichte der Arbeiterbewegung

Dass die Geschichte der deutschen Sozialdemokratie ohne die Massenbewegung der Arbeiterinnen und Arbeiter ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht denkbar ist, dass ihr Aufstieg zur relevanten politischen Kraft mit der dringenden Notwendigkeit der Gestaltung der Folgen der Industrialisierung einherging, mag eine Binse sein.

Nichtsdestotrotz ist es unerlässlich für Gegenwart und Zukunft, sich mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Vielleicht ist es gerade jetzt, wo die Digitalisierung der Arbeitswelt gestaltet werden will, statt nur verwaltet zu werden, besonders hilfreich, auf Klassenkampf und Epochenumbrüche zu schauen.

Die vierteilige Dokureihe „Nicht länger nichts“ – Geschichte der Arbeiterbewegungerzählt ausführlich und eindrücklich vom immer eklatanteren Auseinanderdriften von Arm und Reich ab dem frühen 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

Alle vier Folgen der Dokumentation sind bis zum 26. Juni 2020 in der Arte-Mediathek verfügbar.

Zug des Lebens

Manchen Filmen wäre unter anderen Umständen möglicherweise mehr Ruhm zuteil geworden. „Zug des Lebens“ist so ein Film. Die 1998 erschienene Tragikomödie über die Bewohnerinnen und Bewohner eines Schtetls, die 1941 beschließen, dem Vorschlag des als Dorfdeppen verschrienen Schlomo zu folgen und als Wehrmachtssoldaten verkleidet eine Deportation mit einem falschen Zug zu simulieren, um so die Flucht der Dorfbevölkerung nach Palästina zu ermöglichen, wurde zwar vielfach gelobt und ausgezeichnet, konnte aber seinerzeit nicht mit der Aufmerksamkeit mithalten, die Roberto Benignis Meisterwerk „Das Leben ist schön“ zu Recht erhielt.

Immerhin waren beide Filme bittere Komödien, die sich mit der Shoa auseinandersetzen. Der französisch-rumänische Regisseur Radu Mihăileanu, selbst Sohn von Holocaust-Überlebenden, verbindet in seiner klugen und sehenswerten Komödie jüdischen Humor mit einer zutiefst lebensbejahenden Haltung. „Zug des Lebens“ ist zum Stream auf Amazon Prime verfügbar.

Autor:in

Felix Bethmann

Schreibt für die BERLINER STIMME und den vorwärtsBERLIN