Busse, die ohne Lenkrad und Fahrer unterwegs sind, Autos, die die Verkehrslage anhand von Sensoren an Laternen selbst erkennen und elektrische Shuttles, die Waren von A nach B transportieren – klingt nach Zukunftsmusik? In Berlin ist es bereits teilweise Realität. Das macht die Hauptstadt immer mehr zu der Innovationsmetropole in Deutschland. An den Orten, wo schon jetzt an der Mobilität von morgen geforscht wird, haben wir uns einmal umgehört.
Berlin ist eine Stadt der Innovationen: An verschiedenen Orten der Stadt gibt es schon heute zukunftsweisende Forschung und spannende Start-Ups, die Projekte realisieren, von denen die Stadt erheblich profitieren kann. An anderen Stellen entstehen jetzt die Quartiere der „smart city“ von morgen. Wer will, kann Berlin gerade auf dem Weg in die Zukunft beobachten und miterleben, wie in der Stadt Neues entsteht.
Dabei ist nicht zuletzt die Zukunft der Mobilität in Berlin ein entscheidender Faktor für den Erfolg der Innovationsmetropole. Im Technologiepark Adlershof etwa, dem selbst ernannten klügsten Kiez Berlins, wird unter anderem an Biotechnologie und erneuerbaren Energien geforscht. Auf dem EUREF-Campus in Schöneberg ist ein Zukunftsort entstanden, der heute diverse Start-Ups beheimatet und sich als Reallabor der Energiewende versteht.
Mobilitätsangebote jenseits des Autos
Siemens investiert 600 Millionen Euro, um die Siemensstadt 2.0 als neuen Modernitätsstandort zu entwickeln und auf dem Gelände des Flughafens Tegel entsteht nach dessen Schließung mit der „Urban Tech Republic“ ein Forschungs- und Industriepark für urbane Technologien. Philipp Bouteiller ist seit 2012 Geschäftsführer der Tegel Projekt GmbH, die die „Urban Tech Republic“ zum Leben erwecken will.
1.000 große und kleinere Unternehmen mit bis zu 20.000 Beschäftigten sollen den neuen Standort beleben. Die Beuth Hochschule zieht ins Terminalgebäude, und in unmittelbarer Nachbarschaft entsteht mit dem Schumacher Quartier ein Wohnumfeld für mehr als 10.000 Menschen, das autoarm sein soll und neue Mobilitätsangebote schaffen will.
„Wenn ich über die Ablösung des privaten Autos nachdenke, muss ich immer auch in alternativen Mobilitätsangeboten denken“, sagt Philipp Bouteiller und gibt einen Einblick in die Vielfalt der angedachten Optionen. Am äußersten Rand des Quartiers sollen fünf Quartiersgaragen liegen, die als so genannte „Mobility Hubs“ mehr als nur Abstellfläche für Fahrzeuge sind.
Die hybriden Bauwerke bieten Raum für Lasten- und Leihfahrräder sowie die Quartierslogistik und dienen gleichzeitig als Energiespeicher für das Quartiersgelände. Zudem sollen sie immer direkt mit einem ÖPNV-Haltepunkt verbunden sein. Dabei setzt Philipp Bouteiller auch beim ÖPNV auf einen Mobilitätsmix: „Die Straßenbahn ist in der Nahversorgung großartig, kann aber nicht die Leistungsfähigkeit von U- und S-Bahn ersetzen. Aus meiner Sicht gibt es keinen Widerspruch. Das große, leistungsfähige Rückgrat des ÖPNV ist die Schiene und in der wachsenden Stadt müssen wir beide ausbauen.“
Die bessere Anbindung der „Urban Tech Republic“ und des Schumacher Quartiers an den ÖPNV könnte auch über eine Ausfädelung der U6 an der Scharnweberstraße gelingen. Die Senatsverwaltung für Umwelt, Verkehr und Klimaschutz befindet sich derzeit in der Prüfung dieser Option.
Eine gute Anbindung erscheint auch unerlässlich, da das Quartier selbst nahezu autofrei gestaltet sein soll: „Wir planen ein Netz von großzügig angelegten Radwegen, müssen uns aber auch fragen, wie man seine Lasten von A nach B bekommt. Deshalb wollen wir, neben einem Angebot von Lastenrädern, auch kleine elektrische Shuttles einrichten, die langsam, fußgängerfreundlich und sicher fahren“, so Philipp Bouteiller.
Ganz ohne Autos wird es aber mittelfristig nicht gehen. Behindertenstellplätze, Anfahrten von Handwerkern oder Lieferverkehr müssen in die Planung einbezogen werden. Privates Parken aber soll außerhalb der Quartiersgaragen nicht mehr möglich sein.
Gigantische Chancen für Berlin
Die Chancen, die sich für Berlin aus Projekten wie der „Urban Tech Republic“ ergeben, schätzt Philipp Bouteiller als gigantisch ein: „Berlin hat nach der Wende zwei Drittel seiner industriellen Kapazitäten verloren. Inzwischen sind wir Deutschlands unangefochtene Bildungshauptstadt und haben ein Innovationspotenzial wie sonst nirgendwo, außer vielleicht im Silicon Valley.
Das verspricht eine neue Blütezeit für Berlin. Der Senat begleitet diese Entwicklung aktiv, gerade auch durch die Stärkung der Wissenschaft. Diese Clusterung gibt mir viel Hoffnung für die Zukunft.“ Philipp Bouteillers Aussage, dass jedes Verkehrsmittel im Straßenverkehr das Potenzial hat, langfristig autonomisiert zu werden, bestätigt auch die BVG.
Ein erster autonom fahrender Bus wurde im Rahmen eines Pilotprojekts bereits in Tegel getestet. Gerade in engen oder verkehrsberuhigten Wohngebieten könnten selbstfahrende Kleinbusse das bestehende Angebot ergänzen. Die „See-Meile“, die Teststrecke vom U-Bahnhof Alt-Tegel bis zu den Seeterrassen am Tegeler See, betrachtet die BVG als Erfolg.
Vom Mitte August 2019 bis Mitte Januar 2020 haben rund 16.000 Fahrgäste das Angebot genutzt. Insgesamt wurden rund 4.200 Kilometer unfallfrei zurückgelegt, wie Jannes Schwentu, Pressesprecher der BVG, auf Anfrage mitteilte. Wissenschaftlich begleitet wurde das Pilotprojekt von der DB-Tocherfirma „ioki“.
Sicherlich nicht gleich bei den Doppeldeckern im anspruchsvollen Innenstadtverkehr, aber zum Beispiel für die Erschließung von Stadtquartieren
Jannes Schwentu zu automatisiertem ÖPNV
Dabei konnte eine Wiedernutzungsquote von 88 Prozent ermittelt werden, 37 Prozent der Befragten hatten in der Folge eine bessere Meinung von hochautomatisierten Fahrzeugen. Trotzdem sieht die BVG die Notwendigkeit für weitere Testprojekte dieser Art und eine große Chance für die mittelfristige Anwendung von automatisiertem ÖPNV als gute Lösung: „Sicherlich nicht gleich bei den Doppeldeckern im anspruchsvollen Innenstadtverkehr, aber zum Beispiel für die Erschließung von Stadtquartieren“, erklärt Jannes Schwentu.
Auch die SPD-Fraktion in der Bezirksverordnetenversammlung Reinickendorf erkannte diesen Vorteil für die Anbindung an dezentrale Stadtquartiere und hatte in der Folge bereits im Februar dieses Jahres einen Antrag auf Fortsetzung des Projektes gestellt: „Mit diesem Leuchtturmprojekt kann unser Bezirk ein Zeichen für autonomes Fahren im ÖPNV setzen und ganz nebenbei würde das westliche Tegel besser an den U-Bahnhof Alt-Tegel angebunden werden“, sagte der SPD-Fraktionsvorsitzende Marco Käber.
Jetzt steht fest: Das Projekt wird fortgeführt. „Der als ‚See-Meile‘ bekannte hochautomatisierte Kleinbus wird ab diesem Sommer 2020 wieder ab dem U-Bahnhof Alt-Tegel in Richtung Greenwichpromenade fahren“, heißt es dazu auf der eigens für das Projekt eingerichteten Internetseite. Mehr noch: „Fahrgäste werden insgesamt drei Kleinbusse auf Routen in Alt-Tegel kostenlos nutzen können.“ In den Jahren 2020 und 2021 werde das Projekt durch den Bund mit fast zehn Millionen Euro gefördert.
Akzeptanz der Fahrgäste abfragen
Insgesamt werden die drei hochautomatisierten Kleinbusse für 18 Monate in Alt-Tegel unterwegs sein. Neu ist, dass „neben einer anspruchsvolleren Routenführung die Geschwindigkeit um bis zu sechs Kilometer pro Stunde von bislang zwölf auf 18 Kilometer pro Stunde erhöht wird“. Wie bei dem Vorgängerprojekt soll auch an dieser Stelle die Akzeptanz der Fahrgäste erforscht werden: „Im Rahmen der Bürgerbeteiligung sind beispielsweise Befragungen von Fahrgästen, Bürgerkonferenzen und Projektwerkstätten geplant“.
Eine Straẞe, die mitdenkt und vorausschaut
Der Begriff Leuchtturmprojekt passt auch auf die folgende Teststrecke: Sie liegt mitten in Berlin, genauer zwischen Ernst-Reuter-Platz und dem Brandenburger Tor und ist fast vier Kilometer lang. Auf ihr wird vernetztes und automatisiertes Fahren untersucht. Die Wahl für die Teststrecke begründet Projektleiter Sahin Albayrak von der Technischen Universität Berlin folgendermaßen: „Die Strecke ist in mehrfacher Hinsicht sehr komplex.“
Einerseits habe sie zwei große Kreisverkehre und in jede Richtung eine dreispurige Straße. „Andererseits kann man links und rechts sowie auf einer Mittelinsel parken. Wenn es also ein autonomes Fahrzeug schafft, sich auf dieser Strecke zurechtzufinden, dann kommt es überall zurecht“, sagt der Hochschulprofessor. Die Forschungsfahrzeuge sind automatisiert.
Das heißt: Ein Computer fährt das Auto, jedoch könnte ein Fahrer jederzeit eingreifen. Ein autonomes Fahrzeug hingegen fahre gänzlich ohne Lenkrad. „Unser Ansatz geht von einem intelligenten Auto aus, das in der Lage ist, seine Umgebung wahrzunehmen und vorausschauend zu fahren.“ Zusätzlich dazu seien nicht nur die Fahrzeuge intelligent, sondern auch die Strecke: Eigens für das Projekt haben Sahin Albayrak und sein Team Sensoren an Gebäuden, Schildern und Ampeln angebracht.
Wir wollen dazu beitragen, dass Berlin die Verkehrsproblematik in den Griff bekommt.
Sahin Albayrak
„Die Strecke ist in mehrere Segmente aufgeteilt. Immer wenn das Fahrzeug in ein Segment einfährt, wird es durch die Sensoren mit Informationen versorgt“, sagt der Projektleiter. So wisse das Auto, wie die aktuelle Verkehrslage in 600 bis 900 Meter Entfernung aussieht. „Wir können erkennen, ob Fußgängerinnen und Fußgänger unterwegs sind, ob ein Parkplatz in diesem Segment frei ist oder auch welche Oberfläche die Straße hat, also ob Glatteis oder dergleichen vorherrscht“, erklärt er.
Mit diesem Projekt der digitalen Infrastruktur verbindet Sahin Albayrak einen großen Wunsch: „Wir wollen dazu beitragen, dass Berlin die Verkehrsproblematik in den Griff bekommt, die Luftqualität besser wird und alle Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer besser integriert werden.“
Energie für bis zu 700 Kilometer Reichweite
Von einer der meist befahrenen Straßen in Berlin geht es zum südlichen Teil des S-Bahn-Rings. Auf dem EUREF-Campus in Schöneberg ist ein Zusammenschluss aus mehreren Unternehmen beheimatet, der sich in puncto Mobilität einer zukunftsträchtigen Antriebstechnologie verschrieben hat: dem Wasserstoff.
Laut eigener Aussage auf ihrer Internetseite zeichnet sich das Joint Venture namens „H2 Mobility“ dabei für eine große Aufgabe verantwortlich, nämlich „den flächendeckenden Aufbau einer Wasserstoff-Infrastruktur vor allem zur Versorgung von Pkw mit Brennstoffzellenantrieb in Deutschland.“
Für Pressesprecherin Sybille Riepe liegen die Vorteile von Wasserstoff auf der Hand: „Umweltfreundliche Elektromobilität mit Wasserstoff verursacht weder lokale Schadstoffe noch CO2-Emissionen und bietet dank kurzer Betankungszeiten und großer Reichweiten einen hohen Fahrkomfort.“ So könnten Brennstoffzellenfahrzeuge in nur drei Minuten mit Energie für 500 bis 700 Kilometer Reichweite betankt werden.
Ähnliche Vorzüge sieht auch Claudia Kemfert, Abteilungsleiterin Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung – doch sie schränkt ein: Für die Herstellung von Wasserstoff würden große Mengen an Ökostrom benötigt. Sie plädiert deshalb für den Einsatz in den Bereichen, wo es keine elektrischen Alternativen gibt, wie Schwerlast-, Schiffs- oder Flugverkehr.
Sie müssen miteinander entwickelt werden, anstatt sie gegeneinander auszuspielen.
Sybille Riepe zu Batterie und Wasserstoff als Antriebsmöglichkeiten
Tatsächlich, so Sybille Riepe, bilden beide Antriebsarten ein Paar: Batterieelektrische Fahrzeuge mit mittleren bis kleineren Batterien und Reichweiten bis zu 250 Kilometer liegen in der CO2-Bilanz vor Brennstoffzellenfahrzeugen. Für höhere Reichweiten hätten hingegen Wasserstoffautos Vorteile in der genannten Bilanz.
Beide Technologien – Batterie und Wasserstoff – seien für den Klimaschutz, die Verkehrs- und Energiewende enorm wichtig. „Sie müssen miteinander entwickelt werden, anstatt sie gegeneinander auszuspielen“, sagt sie.
Felix Bethmann
Schreibt für die BERLINER STIMME und den vorwärtsBERLIN