Elske und Regine Hildebrandtprivat

Berliner Stimme 7|2019: Vom Traum, einfach in den Westen zu fahren

Elske Hildebrandt, Tochter der bekannten SPD-Politikerin Regine Hildebrandt, erlebt als Jugendliche den Mauerfall direkt an der Bornholmer Straße. Vor dem 9. November 1989 wird sie politisch aktiv, möchte einmal in den Westen Berlins fahren und hat dabei einen besonderen und persönlichen Traum: Auf einem ganz bestimmten Sofa sitzen. 30 Jahre danach ist für sie die Wiedervereinigung noch nicht vollendet.

Der Sommer/Herbst 1989 war für mich eine sehr spannende Zeit. Ich war 15 und stand inmitten einer ganz großen Veränderung. Ich unterschrieb beim Neuen Forum, hatte Diskussionen in der Schule, schmuggelte Flugblätter für „Demokratie jetzt“ und nahm an Demonstrationen in der Innenstadt teil. Feierlicher Höhepunkt all dessen war der 4. November auf dem Alexanderplatz in Berlin.  Meine Eltern versuchten uns immer ihr gesamtes Berlin nahezubringen. Doch ich war hineingeboren in die geteilte Stadt. Eine Hälfte blieb mir versperrt: Bei meiner Tante in Charlottenburg auf dem Sofa zu sitzen – das war unerreichbar. Oft träumte ich nachts davon, zu unseren Verwandten und Freunden nach Westberlin zu fahren. Ich denke, eine derartige Sehnsucht werden meine Kinder nicht entwickeln können und müssen.

Am 9. November 1989 drängte ich mich mit meinem Bruder – es war sein 18. Geburtstag – und dessen Freund in die Menge an der Bornholmer Straße, als sich die Schlagbäume öffneten. Auch an dieser Stelle erschien es mir noch unmöglich, dass ich wirklich in dieser Nacht zum ersten Mal den Westen der Stadt betreten würde. Unerreichbares wird überhöht – doch schon beim ersten Schritt auf Weddinger Kopfsteinpflaster wurde mir klar: Das ist jetzt alles ganz normal. Das enttäuschte mich nicht, sondern ganz im Gegenteil: Es ermutigte mich, mir mein Berlin wieder komplett anzueignen.

Der 9. November war eine herrliche Nacht mit vielen glücklichen Menschen, die sich unbekannterweise in den Armen lagen. Von diesem Moment nahm ich viele tolle Eindrücke mit. Tatsächlich erfüllte ich mir meinen Traum und saß später bei meiner Tante auf dem Sofa in Charlottenburg. Doch schon im Laufe des 10. November war mir manches unangenehm und es zeigte sich auch das problematische Gesicht all dessen, was nun auf uns zukommen würde. Meinem jugendlichen Gesellschaftstraum entsprach das nicht. Viele Ostdeutsche gierten nach Werbegeschenken, die eifrigsten FDJ-Mitschüler betrogen und holten sich ihr Begrüßungsgeld mehrfach ab. Die Unternehmen witterten zahlreiche unkritische und ausgehungerte Konsumenten. Diese Dynamik musste irgendwie im Zaum gehalten werden. Ich empfand es als merkwürdig, dass meine Mutter plötzlich politische Verantwortung übernahm und in der letzten DDR-Regierung als Ministerin in der Volkskammer saß. Vor dieser hatten wir noch Wochen zuvor lautstark demonstriert. Die 90er-Jahre waren für sie und alle politisch Verantwortlichen eine enorme Herausforderung. Während ich als Jugendliche meine neue Freiheit genoss, also mein Abitur zu absolvieren und durch Europa trampen zu können, verloren viele Menschen ihren beruflichen und sozialen Halt.

Meine Kinder wissen heute nicht mehr, was in Berlin Westen oder Osten war. Verwandtschafts- und Freundeskreise sind gemischt. Das ist wunderbar, jedoch gibt es die strukturellen Unterschiede zwischen Ost und West noch immer. Es sind die Unterschiede in Renten und Löhnen, in Vermögensbildung, wirtschaftlichen Ansiedlungen – und es sind zu wenig Ostdeutsche in Führungspositionen. So gibt es 30 Jahre nach der Wende viel zu feiern und immer noch viel zu tun.

Elske Hildebrandt, 1974 in Berlin Mitte geboren, errang bei der Landtagswahl in Brandenburg 2019 das Direktmandat im Wahlkreis Märkisch-Oderland II.

Autor:in

Elske Hildebrandt

1974 in Berlin Mitte geboren, errang bei der Landtagswahl in Brandenburg 2019 das Direktmandat im Wahlkreis Märkisch-Oderland II