Symbolbild: Sozialstaatcrevis / Adobe Stock

Berliner Stimme 6|2019: Mehr Chancen, mehr Sicherheit, mehr Gerechtigkeit

Skizze eines neuen Sozialstaats

Nach der verheerenden Niederlage bei der Bundestagswahl 2017 wurde „SPD erneuern“ schnell zur Losung der Stunde. Heute, zwei Jahre später, ist wahrlich nicht alles besser. Und doch wird es vorzeigbare Ergebnisse geben, wenn der Bundesparteitag im kommenden Dezember im Berliner CityCube zusammenkommt.

Die Strukturen unserer Partei werden zeitgemäßer und digitaler, endlich wird eine Reaktivierung der Vermögensteuer angestrebt und – siehe da – der ewige Hartz-IV-Konflikt könnte nach quälenden Jahren und einer nicht enden wollenden Debatte tatsächlich ein stückweit aufgelöst werden.

Aber der Reihe nach. Mit Blick auf unsere sich rasant verändernde Arbeitswelt ist es überfällig, eine grundlegende Erneuerung der Absicherung von Arbeit zu organisieren. Es geht um neue Chancen und den verlässlichen Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Bereits früh im Jahr 2018 hat Andrea Nahles deshalb dafür gesorgt, dass wir uns auf den Weg machen, den Wert der Arbeit und die Verlässlichkeit des Sozialstaats wieder zu stärken. Gemeinsam mit Manuela Schwesig, Hubertus Heil und anderen habe ich in den folgenden Monaten an dieser Aufgabe gearbeitet und schaue heute vorsichtig optimistisch auf das Ergebnis.

Seit 15 Jahren diskutiert unsere Gesellschaft über Hartz IV. Kaum eine politische Entscheidung hat so sehr mobilisiert, empört, entzweit. Der Name hat sich tief in unsere Sprache hineingefressen. Nachbarn, Freunde und Angehörige wurden zu „Hartz-IV-Empfängern“ und „Hartz-Kindern“. 2009 wurde „hartzen“ Jugendwort des Jahres – es war gleichbedeutend mit Faulenzerei. Für die einen waren die Hartz-Reformen ein Verrat am Sozialstaat, für andere waren sie logische Antworten auf fünf Millionen Arbeitslose.

Vergessen wird dabei häufig die Perspektive der Betroffenen, die nicht selten Ausgrenzung und Stigmatisierung erleben. Wir waren uns daher schnell einig: Wir wollen Hartz IV überwinden und schlagen heute ein Konzept für mehr Chancen und Sicherheit vor.

Ein Recht auf Arbeit

Der Wandel der Arbeit ist so alt wie die Arbeit selbst. Ganz aktuell fordern uns datenbasierte Geschäftsmodelle und künstliche Intelligenz heraus. Alte Berufsbilder verschwinden, neue entstehen. Die Arbeit wird uns Menschen dabei auf absehbare Zeit nicht ausgehen. Doch sie wird sich ändern, viele Chancen mit sich bringen – und manche vor Herausforderungen stellen. Der verständlichen Sorge vor dieser Entwicklung wollen wir mit einem Recht auf Arbeit begegnen.

Das Recht auf Arbeit ist die Selbstverpflichtung des Staates, jedem Menschen sinnstiftende Arbeit und Teilhabe zu ermöglichen – unabhängig von Alter, Qualifikation und dem bisherigen Lebensweg. Wir wollen nicht, dass die Gesellschaft sich mit einem bedingungslosen Grundeinkommen von dieser Pflicht freikauft oder vor dem Wandel kapituliert. Wir können und wollen den technischen Fortschritt nicht stoppen, aber wir werden in ihm wieder Sicherheit garantieren. Diese Garantie ist Voraussetzung dafür, das Vertrauen in Demokratie und Sozialstaat zu stärken.

In unserem reichen und wirtschaftlich starken Land gilt die Abhängigkeit von Sozialleistungen vielfach als Schande. Nicht für den Einzelnen, sondern für unsere Gemeinschaft. Der Anspruch unserer Politik ist nicht, die Grundsicherung leidlich erträglich zu machen. Anspruch unserer Politik muss vielmehr sein, den Fall in Grundsicherung und staatliche Abhängigkeit mit aller Macht zu verhindern. Dafür muss zuallererst der Wert der Arbeit gestärkt werden.

Gute Tarifverträge und Familienarbeitszeit

Wir werden mit einem Bündel von Maßnahmen helfen, dass mehr Menschen von guten Tarifverträgen und Arbeitsschutz profitieren. Wir werden neue, schlecht regulierte Arbeitsformen rechtssicher besser schützen. Wir werden mit einer Familienarbeitszeit, dem Recht auf mobiles Arbeiten und auf Nichterreichbarkeit die Souveränität über die eigene Zeit stärken. Wir werden ein persönliches Zeitkonto einführen, auf dem Überstunden dauerhaft gesichert, gemehrt und für persönliche Bedürfnisse genutzt werden können.

Wir werden einen Rechtsanspruch auf Weiterbildung und eine Qualifizierungsgarantie einführen, damit aus der Arbeitslosenversicherung endlich eine echte Arbeitsversicherung wird. Rechtsanspruch! Kein sozialstaatliches Gnadenbrot!

Wir wollen mit einer sozialdemokratischen Kindergrundsicherung dafür sorgen, dass es in unserer Gesellschaft nicht länger Kinder erster und zweiter Klasse gibt. Wir wollen, dass alle Kinder gebührenfreien Zugang zu Ganztagskita und Ganztagsschule haben. Dazu gehört auch Arbeit für Eltern, um Perspektivlosigkeit in Familien zu verhindern.

Mindestlohn von 12 Euro und Bürgergeld statt Hartz IV

Wir streben einen Mindestlohn in Höhe von 12 Euro an und wollen, dass der Staat bei öffentlichen Aufträgen und öffentlicher Beschäftigung mit gutem Beispiel vorangeht. Damit wollen wir die Respektlosigkeit beenden, nach der Vollzeit arbeitende Menschen ihre Löhne beim Amt aufstocken müssen. Tarifgebundene Unternehmen wollen wir steuerlich besserstellen, denn die Stärkung der Tarifpartnerschaft ist unser Ziel.

„Nie wieder dürfen wir vergessen: Das sozialdemokratische Menschenbild ist ein positives. Es hat für jede und jeden ein erfülltes Leben zum Ziel.“

Kevin Kühnert

Wer seine Arbeit verliert und nicht sofort eine neue findet, der soll sich auf Arbeitssuche und Weiterbildung konzentrieren können – und nicht Existenzängste erleiden müssen. Den Anspruch auf Arbeitslosengeld I werden wir deshalb auf bis zu drei Jahre ausweiten. Längere Ansprüche hat demnach, wer wenigstens 20 Jahre Beiträge eingezahlt hat. Mit dem Arbeitslosengeld Q verlängern wir den Bezug auch für diejenigen, die ihren Rechtsanspruch auf Weiterqualifizierung in Anspruch nehmen.

Was heute landläufig als Hartz IV bezeichnet wird, werden wir durch ein Bürgergeld ablösen. Das Recht auf Arbeit gilt auch für dessen Bezieher. Sie erhalten ein Recht auf Nachholen eines Berufsabschlusses und einen Bonus für Weiterbildung. Dabei schützen wir für weitere zwei Jahre das Vermögen und sorgen dafür, dass niemand seine Wohnung verlassen muss. Alle Energie soll dem Ziel gelten, wieder selbstbestimmt leben zu können – und nicht dem Kampf gegen den sozialen Absturz.

Weniger Sanktionen und Hilfe bei unvorhersehbaren Anschaffungen

Wir wissen, dass viele Betroffene sich von verschiedenen Widrigkeiten des bestehenden Systems gegängelt fühlen. Sondersanktionen für junge Menschen oder das Sanktionieren der Miete gehören deshalb in unserem Konzept der Vergangenheit an. Über eine gänzliche Sanktionsfreiheit der Grundsicherung wird der Parteitag entscheiden – ich hielte das ausdrücklich für den richtigen Schritt.

Rechtsstreitigkeiten mit dem Jobcenter um ein paar Euro vermeiden wir durch eine angemessene Bagatellgrenze. Kaputte Waschmaschinen und Kühlschränke sollen nicht länger zum persönlichen Ausnahmezustand führen. Für solche Fälle werden wir unbürokratische Hilfe vorsehen. Alle Leistungen kommen einfach und verständlich (!) aus einer Hand. Unser Sozialstaat bietet Hilfe offensiv an und versteckt sie nicht hinter Paragrafen.

Nie wieder dürfen wir vergessen: Das sozialdemokratische Menschenbild ist ein positives. Es hat für jede und jeden ein erfülltes Leben zum Ziel. Wir wollen keinen Sozialstaat, der misstraut, Angst macht oder jemanden aufgibt. Wir wollen einen Sozialstaat, der individuell schützt, unbürokratisch unterstützt und Vertrauen vermittelt. Einen Sozialstaat, dessen Unterstützung alle mit erhobenem Haupt annehmen können, weil das nämlich kein persönliches Versagen bedeutet.

Mit Blick auf die Hartz-Reformen haben wir verstanden, dass im Mittelpunkt unserer politischen Lösung nicht stehen sollte, wer vor 15 Jahren auf einem Parteitag recht hatte. Die Herausforderungen der Gegenwart werden nicht mit Rechthaberei bewältigt (wohl aber mit dem Lernen aus Fehlern!), sondern mit Konzepten, die in unsere Zeit und zu unseren Grundwerten passen. Diesen Anspruch, so glauben wir, löst unser Konzept für einen neuen Sozialstaat wieder deutlich stärker ein. Es orientiert sich am Respekt vor Leben und Arbeit eines und einer jeden. Und es rückt damit endlich wieder das Wichtigste in den Mittelpunkt: den einzelnen Menschen mit all seinen Talenten, Bedürfnissen und sozialen Rechten.

Autor:in

Kevin Kühnert

Bezirksverordneter in Tempelhof-Schöneberg und seit November 2017 Juso-Bundesvorsitzender

Kevin Kühnert