Das Afghanistan-Komitee für Frieden, Wiederaufbau und Kultur, die Deutsch-Afghanische Freundschaftsgesellschaft und der Fachausschuss für Internationale Politik, Frieden und Entwicklung der SPD Berlin haben als Zusammenfassung der Beratungsergebnisse der Diskussionsveranstaltung „Beiträge Deutschlands zu einem nachhaltigen Wiederaufbau und Friedensprozess in Afghanistan“ am 24.3.2018 im Kurt-Schumacher-Haus die folgende Gemeinsame Erklärung verabschiedet:
Gemeinsame Erklärung zur Diskussionsveranstaltung:
Die drei veranstaltenden Organisationen begrüßen die in dem Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD zum Ausdruck gebrachte Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland zur Fortsetzung ihres sicherheits- und entwicklungspolitischen Engagements in und für Afghanistan mit dem Ziel der Sicherung einer gefestigten Zukunft für das Land und seine Menschen. Sie begrüßen weiterhin die Bereitschaft Deutschlands, mit der Fortführung seiner Beteiligung an der Trainings- und Beratungsmission Resolute Support mit einem aufgestockten Kontingent von Bundeswehreinheiten weiterhin zur Stabilisierung der zuletzt deutlich verschlechterten Sicherheitslage in Afghanistan beizutragen. Sie unterstützen die im Koalitionsvertrag genannte Zielsetzung, mit diesem sicherheitspolitischen Engagement zum Aufbau funktionierender Sicherheitsstrukturen in Afghanistan beizutragen und seine durch demokratische Wahlen legitimierten Institutionen in die Lage zu versetzen, in absehbarer Zukunft selbst für Sicherheit im eigenen Land zu sorgen.
Das in Zusammenarbeit und in Abstimmung mit seinen Verbündeten kontinuierlich ausgeübte sicherheitspolitische Engagement Deutschlands ist ein entscheidender Baustein zur Bekämpfung der Ursachen der Fluchtbewegungen eines großen Teils der Jugend Afghanistans, die wegen des sich verschärfenden Bürgerkriegs und sich weiter verschlechternder Lebensperspektiven im Land das Land verlässt, um zu einem erheblichen Anteil auch in Deutschland vorübergehend oder dauerhaft eine sichere Existenz zu finden.
Sie schafft weiterhin notwendige sicherheitspolitische Rahmenbedingungen für den Friedens- und Versöhnungsprozess in Afghanistan, der durch das sehr weitreichende Friedensangebot von Präsident Ghani in den letzten Tagen entscheidende Impulse erfahren hat. Für den Erfolg dieser Initiative ist es von großer Bedeutung, dass Deutschland seine sicherheits- und entwicklungspolitischen Beiträge zu einer friedlichen und nachhaltigen Entwicklung Afghanistans durch eine Verstärkung seiner friedenspolitschen Anstrengungen ergänzt.
Ein maßgeblicher Beitrag könnte eine Initiative für eine neue Friedenskonferenz zu Afghanistan in der Nachfolge der Petersberg-Konferenz von 2002 und der Londoner Konferenz von 2010 sein, zu der Botschafter Potzel in der Veranstaltung der FES am 20.3.18 eine grundsätzliche Bereitschaft hat erkennen lassen. Hauptziel einer solchen Konferenz muss es sein, die USA, die afghanische Regierung und die Taliban auf der Grundlage der Vorschläge von Präsident Ghani an einen Tisch zu bringen.
Die deutsche Afghanistan-Politik muss der durch spektakuläre Anschläge, deren Urheber in vielen Fällen nicht aufgeklärt werden konnten, gekennzeichneten Verschlechterung der Sicherheitslage als wesentliche Fluchtursache auch in der Weise Rechnung tragen, dass von der Abschiebung von Geflüchteten aus Afghanistan in das von den meisten unabhängigen Expert/Innen insgesamt als unsicher gekennzeichnete Land verzichtet wird. Derartige Abschiebeaktionen bringen nicht nur die abgeschobenen Geflüchteten vielfach in ausweglose Situationen, sondern verschärfen indirekt die friedensgefährdenden Spannungen im Land und untergraben damit nicht nur die Erfolgsaussichten des sicherheitspolitischen Engagements Deutschlands, sondern auch der ebenso wichtigen deutschen Beiträge zum Wiederaufbau und zum Friedens- und Versöhnungsprozess in Afghanistan.
Die drei Organisation erwarten, dass die zivile Entwicklungszusammenarbeit durch Deutschland auch in der neuen Legislaturperiode 2018 – 2021 personell, sachlich und finanziell mindestens im bisherigen Umfang fortgeführt wird.
Sie appellieren an die neue Bundesregierung, ihre Anstrengungen und Beiträge zur Sicherung freier und fairer Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, insbesondere für eine hinreichende personelle, technische und finanzielle Ausstattung von Wahlbeobachtungsmissionen, aber auch durch Verwaltungshilfe und diplomatische Interventionen zur Sicherung einer arbeitsfähigen und glaubwürdigen unabhängigen Wahlkommission mit internationale Beteiligung zu verstärken. Sie appellieren weiterhin an die neue Bundesregierung, ihren Einfluss auf die afghanischen Regierung geltend zu machen, dass für alle Gruppen und Einzelpersonen, die sich für die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen bewerben, Chancengleichheit in der Zulassung ihrer Bewerbung und dass in den Wahlkampagnen ihre verfassungsmäßigen Rechte insbesondere Meinungs- und Versammlungsfreiheit und gleichmäßige Repräsentanz in den staatlichen Medien garantiert werden.
Wir geben aber zu bedenken, dass auch eine volle Gewährleistung der hier genannten Rahmenbedingungen das Gelingen eines demokratischen Prozesses mit dem Ziel und Ergebnis der Schaffung vertrauenswürdiger und für die Mehrheit der Bevölkerung legitimer staatlicher Institutionen einschließlich anerkannter Vertretungen der Bevölkerung in den Provinzen und auf kommunaler Ebene wahrscheinlich nicht ausreichen wird. Es wird der Schaffung eines erneuerten institutionellen Rahmens – möglicherweise mit einer Verfassungsrevision, die sowohl der islamischen Tradition Afghanistans wie international anerkannten Verfassungsgrundlagen wie der Garantie der Grund- und Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Justiz Rechnung trägt – bedürfen, um bisherige Gruppierungen der bewaffneten Opposition, soweit sie eine nationale Agenda verfolgen, in einen demokratischen Erneuerungsprozess einbeziehen zu können und künftigen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sowie entsprechenden Wahlen auf der Ebene der Provinzen und Kommunen die nötige Legitimität zu verleihen.
Eine grundlegende Erkenntnis aus der Evaluation des deutschen Engagements in Afghanistan seit 2001 und der ISAF-Mission insgesamt sowie der Reflexion der Rahmenbedingungen für einen Weg Afghanistans von einem Bürgerkriegsland zu einem „normalen“ Entwicklungsland ist unbestritten, dass Frieden und nachhaltige Entwicklung in Afghanistan nicht mit militärischen Interventionen, sondern nur mit Verhandlungen zwischen bisher verfeindeten Parteien herbeigeführt werden können. Eine Verlagerung der Anstrengungen sowohl der Regierung Afghanistans als auch ihrer Verbündeten von Militäreinsätzen auf den zivilen Aufbau/Wiederaufbau, den Aufbau nachhaltiger wirtschaftlicher Strukturen und den Friedens- und Versöhnungsprozess würde immense Ressourcen aus destruktiven Bereichen abziehen und für konstruktive und produktive Maßnahmen verfügbar machen:
Eine Regierung, die das Vertrauen der Mehrheit der Bevölkerung genießt, braucht keine Armee von mehreren 100 000 Mann zur Terrorismusbekämpfung, sondern könnte mit dem verbleibenden bewaffneten Widerstand von bestimmten Minderheiten dadurch fertig werden, dass diese in einer Bevölkerung, die Vertrauen zu der von ihr gewählten Regierung hat, keine hinreichende Unterstützung mehr finden. Hilfreich und notwendig zur Lösung der weiter bestehenden Sicherheitsprobleme des Landes bleibt aber eine Fortführung und Intensivierung der Polizeihilfe insbesondere in Form einer den aktuellen Sicherheitsproblemen gerecht werdenden Ausbildung, Ausstattung und Besoldung der nationalen und lokalen Polizeikräfte durch Deutschland und seine Verbündeten.
Da nicht zu erwarten ist, dass Deutschland die globale sicherheitspolitische Strategie der USA, die auch den weiteren Umgang der USA mit den verbleibenden Problemen in Afghanistan bestimmen wird, im Sinne der hier vorgetragenen Besorgnisse maßgeblich beeinflussen kann, appellieren die drei Organisationen an die neue Bundesregierung, über die Absichtserklärung im Koalitionsvertrag hinaus die weitere Unterstützung Afghanistans nicht allein auf die zivile Entwicklungszusammenarbeit in Form von Infrastrukturförderung, Förderung des Bildungs- und Gesundheitswesens, Verwaltungshilfe und Hilfe beim Aufbau einer funktionsfähigen Justiz zu konzentrieren, sondern einen auch finanziell hinreichend fundierten Schwerpunkt bei der Unterstützung des Friedens- und Versöhnungsprozesses zu setzen.
Dies betrifft einerseits diplomatische Vermittlungsarbeit und gute Dienste bei Verhandlungen auf nationaler Ebene mit der politischen Führung der bisherigen „bewaffneten Insurgenz“ insbesondere der afghanischen Taliban und diplomatische Beiträge zur Erleichterung einer positiven Rolle der an den Konflikten in und um Afghanistan interessierten Regionalmächte Russland, China, Pakistan, Indien und Iran, vor allem aber die organisatorische, politisch-moralische und finanzielle Unterstützung von Friedens- und Versöhnungsprozessen und der sie tragenden Gruppen und Organisationen (lokale Schuras, Dorfälteste, Frauenorganisationen) auf lokaler und Provinzebene.
Die im Koalitionsvertrag angekündigte Unterstützung eines „afghanisch geführten Friedens- und Versöhnungsprozesses“ sollte neben der Vorbereitung einer neuen Friedenskonferenz unter Beteiligung der USA, der afghanischen Regierung und der Taliban auf der Grundlage des „Kabul-Prozesses“ eine Verknüpfung dieses Prozesses mit Friedensinitiativen Russlands, Chinas und anderer regionaler Mächte, aber auch mit Initiativen internationaler Friedensorganisationen wie der Pugwash-Conference for Science and World Affairs (z.B. Sonderungsmission mit der Taliban-Vertretung in Doha) auf den Weg bringen.
Als unabdingbare Rahmenbedingungen für einen nachhaltigen Entwicklungsprozess in Afghanistan müssen weiterhin der Aufbau eines Bildungswesens, das den noch unerträglich hohen Anteil an nicht alphabetisierten Menschen vor allem bei Frauen und Mädchen und in den ländlichen Regionen angeht sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen im Fokus aller Unterstützungsmaßnahmen bleiben. Es reicht nicht, dass die von Deutschland aufgewandten Mittel für die zivile Hilfe diejenigen für Militär und Polizei inzwischen deutlich übersteigen, die Mittel müssen auch in spürbarer Form bei der afghanischen Bevölkerung in Form von besseren Beschäftigungs- und Existenzmöglichkeiten ankommen.