Am 7. Oktober 1989 feiert die DDR ihren 40. Jahrestag. Am selben Tag gründet sich in Schwante die Sozialdemokratische Partei (SDP) in der DDR. Einen Monat später treffen sich wieder Frauen und Männer und gründen den Berliner Bezirksverband der SDP. 30 Jahre danach erinnert eine Veranstaltung an diesen denkwürdigen Moment und an den Mut in scheinbar aussichtslosen Zeiten.
Am 5. November 1989 nahmen über 100 Frauen und Männer ihren ganzen Mut zusammen. Sie alle waren erst seit Kurzem Mitglied der Sozialdemokratischen Partei (SDP) in der DDR. In der Sophienkirche gründeten sie den Bezirksverband Berlin der SDP, wohlgemerkt vor dem Fall der Berliner Mauer und der Wiedervereinigung der beiden geteilten deutschen Staaten.
„Es war damals ein großes Abenteuer verbunden mit einem großen Risiko“, meint Thomas Krüger, 1989 Geschäftsführer des SDP Bezirksverbands Berlin. „Wir hätten auch alle im Knast landen können.“ Thomas Krüger ist an diesem Abend einer der Hauptgäste der Veranstaltung „30 Jahre Gründung der SDP Bezirksverband Berlin“ im Erika-Heß-Saal im Kurt-Schumacher-Haus in Berlin.
Neben ihm sind noch Markus Meckel, Mitbegründer der SDP, Stephan Hilsberg, 1989 erster Sprecher der SDP sowie Anne-Kathrin Pauk, 1989 erste Sprecherin des SDP Bezirksvorstands Berlin, und Christine Bergmann, 1990 stellvertretende Landesvorsitzende der wiedervereinigten SPD Berlin, als Ehrengäste geladen. Der Saal in dem die Veranstaltung stattfindet füllt sich schnell.
Das Interesse ist groß. Bald werden noch Stühle und Bänke hinzugestellt. Am Ende sind über 150 Frauen und Männer gekommen. Den Anfang dieses besonderen Festakts macht Michal Müller, Landesvorsitzender der SPD Berlin. In seiner Begrüßung geht es vor allem um die Freiheit, die immer wieder neu erkämpft werden muss.
Dabei verweist er besonders auf die anwesenden Ehrengäste, denn diese hätten auch den Mut und den Willen gespürt, sich selbst, ganz persönlich für spürbare Veränderungen zu engagieren. Mehr noch: Sie hätten den Mut gehabt, sich nicht nur für ihre persönliche Freiheit, sondern sich auch für die Freiheit der anderen einzusetzen.
Konkret geht er dabei auf den 7. Oktober 1989 ein. An diesem Tag gründen 43 Frauen und Männer die SDP in Schwante. Sie und andere hätten wahrlich großen Mut bewiesen. Was er meint wird noch einmal mit Blick auf die Einladung zu der Veranstaltung deutlich: Am gleichen Tag werden im etwa 30 Kilometer entfernten Berlin junge Menschen auf einer Demonstration von Sicherheitskräften des DDR-Machtapparats niedergeprügelt.
Den angesprochenen Mut kann ein prominenter Gast des Festakts nur bestätigen: „Die Gründung der SDP war eine Herausforderung an die SED und eine überaus tolle und mutige Tat“, lobt Walter Momper, ehemaliger Regierender Bürgermeister von Berlin, das Engagement der Gründungsmitglieder. Gerade die Parteigründung sei das zentrale Element gewesen, denn es bedeutete den Griff nach der Macht.
Schließlich kommt Michael Müller in seiner Rede auf den 5. November 1989 zu sprechen – vier Tage vor dem Fall der Berliner Mauer. Neben dem anfangs erwähnten Mut ist er den anwesenden Ehrengästen für ihren Willen zur Veränderung und Freiheit dankbar. Gerade Letzteres greift Anne-Kathrin Pauk anschließend noch einmal auf, indem sie sagt: „Wir haben die Freiheit erkämpft.“
Gesellschaftsbild einer jungen Partei: sozial und demokratisch
Die SDP sei damals aktiv nach vorn gegangen. Eine Sache, die man für das Heute lernen könne. Lobbyisten würden heutzutage die Deutungshoheit über wichtige Themen, wie Klima und Umwelt, für sich in Anspruch nehmen. Gerade an dieser Stelle müsste die Partei, so Pauk, wieder mehr Position beziehen.
Als ein fünfminütiges Video der Gründungsversammlung der Berliner SDP gezeigt wird, kommt es kurz zum Gelächter unter den Zuschauerinnen und Zuschauer. Der Grund ist der im Video zu sehende Ibrahim Böhme. Er hatte die SDP in der DDR in Schwante mitgegründet und grüßte am Anfang seiner Rede in der Sophienkirche auch die „Personen, welche dienstlich da“ sind.
Gemeint waren Mitarbeiter der Staatssicherheit. Ibrahim Böhme wurde später selbst als inoffizieller Mitarbeiter enttarnt. Ein merkliches Raunen geht anschließend durch den Saal als kurz darauf in der nächsten Szene der junge Stephan Hilsberg zu sehen ist, der noch einmal auf den Namen der SDP hinweist und somit das Gesellschaftsbild der noch jungen Partei erklärt: „sozial und demokratisch“.
„Die Angst war ein stückweit weg“ (Christine Bergmann)
Die anschließende Podiumsdiskussion leitet Siegfried Heimann, Historiker, Autor und Mitglied der Historischen Kommission. Er hat sechs Fragen vorbereitet. An diesem Abend wird er nur zwei stellen können, so munter ist die Diskussion. Die erste Frage bezieht sich auf die Großdemonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz und welche Rolle diese damals gespielt habe?
Christine Bergmann ergreift als erste das Mikrofon: „Es wurden zum ersten Mal Dinge offen ausgesprochen.“ Es sei ein offener Kampf für Meinungsfreiheit gewesen. „Die Angst“, sagt sie, „war ein stückweit weg.“ Ein Gefühl hätte die Leute erfüllt: „Jetzt wird alles möglich.“ Für Stephan Hilsberg war das Ziel der Veranstaltung am 4. November nicht ganz klar.
Die SDP hingegen habe ganz klar die Machtfrage gestellt: „Wir haben damals gesagt, die SED hat abzudanken“ sagt Stephan Hilsberg unter großen Applaus des Publikums. Markus Meckel sieht es ähnlich wie sein Vorredner. Mit Verweis auf die Rednerliste sagt er: „Ich sah die Veranstaltung am 4. November eher skeptisch.“
„Wir – das sind viele“ (Thomas Krüger)
Von der Großdemonstration sei keine Richtung ausgegangen. Dennoch, die Straße sei zentral und wichtig gewesen. „Wir konnten den Druck der Proteste später in den Verhandlungen nutzen.“ „Die Plakate waren mutiger als die Redner“, bemerkt anschließend Thomas Krüger. Außerdem sei ein ganz spezielles Gefühl am 4. November auf dem Alexanderplatz wichtig gewesen: „Wir – das sind viele“, sagt er.
Die zweite Frage von Siegfried Heimann dreht sich um die damalige Diskussion der Aufnahme von SED-Mitgliedern in die SDP. An dieser Stelle ist es Markus Meckel, der zuerst zum Mikrofon greift. Man habe eine klare Abgrenzung zur SED betrieben. „Ohne diese Abgrenzung, also wenn die SED Partnerin der SPD geworden wäre, dann wäre die Sozialdemokratische Partei im Westen nicht mehr mehrheitsfähig gewesen“, erklärt er.
Bezug auf Freiheit und Demokratie
„Für die SDP war die SED der Feind schlechthin“, ergänzt Stephan Hilsberg. Man hat sich schon damals auf die freiheitliche Demokratie bezogen, meint Thomas Krüger. Mehr noch: Man wollte den Weg zum Rechtsstaat beschreiten und das mit einem hohen Maß an Transparenz. Das habe die SDP ganz klar von der SED unterschieden.
In die Debatte meldet sich auch ein Zuschauer zu Wort. „Die SED-Mitglieder hatten damals nur die Rettung des Sozialismus im Kopf“, sagt Knut Herbst. „Wir wollten jedoch damals das Grundgesetz und nicht den Sozialismus.“ Dabei schlägt er auch einen Bogen in die heutige Zeit: „Die Enteignungsdebatte wird heute wieder geführt.“
Das grenze an Sozialismus. Nach der Veranstaltung ist der erste Sprecher der SDP sichtlich zufrieden: „Ich fand die Veranstaltung erstaunlich gut, sie war sehr lebendig“, sagt Stephan Hilsberg. Es seien auch wunde Punkte angesprochen worden. Siegfried Heimann war der Festakt wie ein kleines Klassentreffen. „Ich habe mit alten Mitarbeiterinnen von Gesine Bergmann gesprochen.“
Deren Anwesenheit habe die damalige stellvertretende Landesvorsitzende der wiedervereinigten Berliner SPD sehr gefreut. Die Atmosphäre eines Klassentreffens kann Helmut Hampel nur bestätigen: „Ich habe viele alte Genossinnen und Genossen getroffen.“ Darüber hinaus fand er die Veranstaltung sehr interessant.
Zum Schluss ist eine Frage noch offen: Was bleibt von den Zielen der SDP? „Eine ganze Menge“, sagt Stephan Hilsberg. Dann zählt er auf: „Schaffung eines Rechtstaats und eines demokratischen Systems, freie Wahlen, Schutz der Menschenrechte sowie die Einführung einer sozialen Marktwirtschaft.“ Die SDP schlage sich in den Geschichtsbüchern nieder.
Was bleibt ist ein Gefühl großen Glücks
Für Christine Bergmann ist es ein Gefühl: „Damals gab es endlich eine sozialdemokratische Partei im Osten – das war ein großes Glück.“ Dieses Gefühl habe sie heute immer noch. Markus Meckel verweist auf eine wichtige Errungenschaft, welche bis heute andauert: eine gesamtdeutsche Sozialdemokratie.
„Wir wollten ein Unfreiheitssystem ablösen und eine parlamentarische Demokratie errichten und genau das haben wir geschafft“, sagt Thomas Krüger. Angesprochen auf die Frage, ob er es nochmal unter den gleichen scheinbar aussichtslosen Voraussetzungen wieder so machen würde, antwortet er: „Ich bereue absolut nichts. Ich hätte alles im gleichen Maße wieder getan.“