Gemeinsames Positions­papier der FA I/FA II/FA VII zum Corona-Recovery-Programm der EU

Nach dem eher destruktiven Streit um Corona-Bonds hat sich in der Frage der Maßnahmen auf EU-Ebene zur Bewältigung der Folgen der Corona-Krise inzwischen eine Dynamik entwickelt, die sowohl für ein rasches und wirksames Handeln zur Behebung der aktuellen Notlagen als auch für weitergehende Entscheidungen zur Transformation der EU genutzt werden muss. Paradoxerweise hat offenbar gerade die Infragestellung des Handelns der EZB durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts dazu beigetragen, auch nach fiskalpolitischen Antworten auf die Folgen der Corona-Krise zu suchen und die Hauptlast der Rettung der Eurozone nicht weiter der EZB zu überlassen.

Wir begrüßen die Vorschläge der EU-Kommission, zusätzlich zu den im April beschlossenen Programmen (Arbeitslosenrückversicherung SURE, ESM-Kreditlinie und EIB-Garantiefonds mit einem Gesamtvolumen von € 540 Mrd.) ein „Next Generation EU“benanntes europäisches Wiederaufbauprogramm aufzulegen, das inhaltlich  mit dem Mehrjährigen Finanzrahmen 2021 – 2027 verzahnt werden soll. Die Gemeinschaftsmethode erlaubt hier eine uneingeschränkte Kontrolle durch das Europäische Parlament (EP) bei der Verwendung der Mittel sowie gleichzeitig deren relativ schnelle Verfügbarkeit. Positiv hervorzuheben ist, dass das Programm über gemeinsam abgesicherte Anleihen finanziert und zum Großteil als Transfers an die Mitgliedsstaaten fließen soll. Auch die Einführung neuer „Eigenmittel“ der EU(u. a. Digitalsteuer, Einnahmen aus dem Handel mit Emissionszertifikaten und CO-2-Grenzausgleichsabgabe) stellt einen wichtigen Schritt zu einer vertieften fiskalpolitischen Integration dar. Das von der Kommission vorgeschlagene Volumen des Wiederaufbauprogramms von 750 Mrd. Euro ist hingegen nicht ausreichend und liegt deutlich hinter den Forderungen des EP über ein Gesamtpaket neuer Mittel („on top of the next MFF“) in Höhe von € 2.000 Mrd.! Zwar geht der Vorschlag der Kommission über jenes der Macron-Merkel-Initiative (€ 500 Mrd.) hinaus, doch wird dies allen Prognosen zufolge bei weitem nicht ausreichen. Auch sieht der Kommissionsentwurf nach wie vor keine vollständige Abschaffung bestehender Rabatte für einzelne Mitgliedstaaten vor.

Wir unterstützen daher ausdrücklich die Resolution des Europäischen Parlaments vom 14.05.2020 und fordern unsere SPD-Mitglieder im Bundestag und in der Bundesregierung dazu auf, sich bei der Ausgestaltung des EU-Wiederaufbauplans – insbesondere im Zuge der deutschen Ratspräsidentschaft ab Juli 2020 – für folgende Ziele einzusetzen:

1. Das Volumen des Wiederaufbau-Programms muss auf mindestens 1 Billion Euro erhöht werden. Es muss sichergestellt werden, dass die im Kommissionsvorschlag in Aussicht gestellten Mittel auch tatsächlich in der angestrebten Verteilung nach den unterschiedlichen Bedarfen und dem Finanzierungsmodus von zwei Dritteln Transferanteil und einem Drittel Kreditanteil zur Verfügung stehen und abfließen.

2. Für die zur Finanzierung des Programms zu begebenden EU-Anleihen sollen möglichst lange Laufzeiten angestrebt und, wie von der spanischen Regierung vorgeschlagen, die Möglichkeit ewiger Anleihen bzw. revolvierender Fonds nach dem Vorbild der Marshall-Plan-Hilfen für Europa nach dem Zweiten Weltkrieg geprüft werden.

3. Während sich die Mittelvergabe auf die besonders durch Covid-19 betroffenen und bedürftigen Länder konzentrieren soll und dabei nicht an „Strukturanpassungen“ oder Wettbewerbsziele nach neoliberalem Muster sowie an ein Übermaß an makroökonomischer Konditionalität gebunden werden darf, ist der Schuldendienst der für das Programm begebenen Anleihen, abgesehen von der Schaffung neuer EU-Eigenmittel (s. Punkt 5), von den Mitgliedstaaten nach ihrer Finanzkraft und wirtschaftlichen Stärke zu erbringen. Durch einen solchen Ausgleich wird ein Zeichen der Solidarität unter den verschiedenen Ländern gesetzt (u.a. im Sinne des Artikels 122 AEUV). Dabei kann außerdem Marktverzerrungen, die durch die volumenmäßig sehr ungleichen nationalen Corona-Hilfsprogramme, insbesondere zur Unterstützung der eigenen Unternehmen, entstehen, Rechnung getragen werden.

4. Die Ausgestaltung des Wiederaufbauinstruments wie des MFR 2021 – 2027 muss von Anfang an als Transformationsprogramm nach Maßgabe des von der Kommission vorgelegten „Green Deal for Europe“ sowie als Instrument des sozialen Ausgleichs gemäß einer Stärkung der Europäischen Säule sozialer Rechte erfolgen. Gleichzeitig müssen die unterschiedlichen ökonomischen Strukturen der Mitgliedsländer sowie die ungleichen Ausgangsniveaus für die Transformation und Digitalisierung der Wirtschaft bei der Mittelvergabe berücksichtigt werden. So sollten die Länder die für sie relevanten förderfähigen Schlüsselindustrien unter dem Gesichtspunkt einer klimaneutralen, nachhaltigen Industrietransformation selbst identifizieren und für die daraus abgeleiteten Transformationsstrategien adäquate Unterstützung von den europäischen Institutionen erhalten.

5. Bezogen auf die neue REACT-EU-Fazilität bis 2022 ist die kurzfristige Aufstockung vorhandener Kohäsionsinstrumente sowie die damit einhergehende Flexibilisierung u.a. für Übertragungen zwischen Fonds begrüßenswert. Bei diesen krisenbezogenen Investitionen in Wachstum und Beschäftigung, die als zusätzliche Mittel keiner Kofinanzierung unterliegen, unterstützen wir die geplante Heranziehung von aktuellen, krisenbezogenen sozio-ökonomischen Parametern und ihre Aktualisierung im Jahr 2021 zur zielgenauen regionalen und sektoralen Vergabe der Mittel im Zeitraum 2021-2022.

6. Die Einführung der „neuen Eigenmittel“ zur Finanzierung des Wiederaufbauinstruments muss zur Sicherstellung der Finanzierung des Rettungsprogramm direkt mit Beginn der Finanzperiode 2021 und nicht erst, wie geplant, ab dem Jahr 2024 erfolgen! Neben den oben genannten neuen Eigenmitteln soll auch eine Mindeststeuer auf Unternehmensgewinne eingeführt werden, die direkt an den EU-Haushalt abgeführt wird. Darüber hinaus braucht es eine einmalige europaweit koordinierte Vermögensabgabe, um die immer ungleicher verteilten Vermögen für den Wiederaufbau zu nutzen und einer neuen Schuldenkrise vorzubeugen.

7. Das Europäische Parlament ist sowohl bei der Umsetzung des MFR als auch im Rahmen des Europäischen Semesters intensiv einzubinden – besonders dann, wenn aus bloßen Empfehlungen im Europäischen Semester bindende Vorgaben werden sollen. Aktuell werden Empfehlungen vor allem zwischen Mitgliedstaaten, Kommission und Rat ausgehandelt. Eine stärkere Beteiligung des EP ist hier unabdingbar! Das wichtigste Ziel muss dabei in einem Abbau dermakroökonomischen Ungleichgewichte zwischen den EU-Staaten liegen.

8. Wir fordern – im Rahmen der politischen Konditionalität – die Einbindung des neuen Mechanismus zur Rechtsstaatlichkeit in den MFR. Durch die Kopplung des Aufbauinstruments an den MFR wird das klare Bekenntnis aller 27 Mitgliedstaaten zu gemeinsamen Werten und ihrer praktischen Einhaltung (demokratische Legitimität, Rechtsstaatlichkeit, funktionierender Binnenmarkt) eingefordert.

Weichen stellen für eine institutionelle Architektur nach einer Vertragsreform

Um als EU dauerhaft gestärkt aus dieser Krise hervorzugehen, müssen auch Lösungswege aufgezeigt werden, die über den bestehenden Vertragsrahmen hinausgehen. Ein gemeinsamer Binnenmarkt und eine gemeinsame Währung benötigen eine bindende Koordinierung der Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik. Dazu bedarf es einer Reform der institutionellen Architektur und Kompetenzabgrenzung in der EU.

Zur wirksamen Koordinierung der Finanz- und Fiskalpolitik sollte ein europäisches Finanzministerium geschaffen werden. Ein*e europäische*r Finanzminister*in sollte als zuständiger EU-Kommissar*in qua Amt zugleich der entsprechenden Ratsformation ECOFIN sowie der informellen Eurogruppe vorstehen, in Analogie zur „Doppelhut-Funktion“ des Hohen Vertreters der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik. Darüber hinaus bedarf es einer Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts, bei der die Schuldenkriterien, vor allem die 3 %- und 60 %-Regel, so überarbeitet werden, dass prozyklische Effekte vermieden und den einzelnen Mitgliedsstaaten mehr wirtschafts- und fiskalpolitische Spielräume – insbesondere für öffentliche Investitionen – eingeräumt werden. 

Die Europäische Union muss dauerhaft in die Lage versetzt werden, eigene Steuern zu erheben sowie eigene Schulden aufzunehmen. Insgesamt muss die Europäische Kommission zu einer echten europäischen Regierung aufgewertet und die Rolle des Europäischen Rats gestutzt werden. Im Zuge dessen ist eine Verkleinerung der Kommission auf 18 Kommissar*innen anzustreben. Dazu bedarf es klarer Regeln, aus welchen Ländern Mitglieder zu entsenden sind, damit nicht nur große Mitgliedsstaaten berücksichtigt werden. Das Einstimmigkeitsprinzip im Rat muss auch in den letzten verbliebenen Sachfragen abgeschafft werden. Das Europäische Parlament muss in die Lage versetzt werden, die parlamentarische Kontrolle vollständig ausüben zu können. Das Gesetzesinitiativrecht ist längst überfällig.

Wir brauchen die Wiederherstellung des Spitzenkandidatenprinzips, indem Vorschlag und alleinige Wahl des*r Kommissionspräsident*in durch das EP erfolgt. Die europäische Regierung (Kommission) ist allein durch das von der europäischen Bevölkerung gewählte Parlament zu wählen und zu kontrollieren! Die europäische Demokratie braucht für ein handlungsfähiges Parlament ferner eine Sperrklausel für Parteien bzw. Parteienfamilien (von 3 bis 5 %), um einer weiteren Zersplitterung vorzubeugen und der Gefahr des Rechtsextremismus entgegenzuwirken. Darüber hinaus soll ein Zweitstimmen-Wahlsystem eingeführt werden, bei der es neben der nationalen künftig eine transnationale Liste mit gemeinsamen Spitzenkandidaten europäischer Parteien gibt.