Berliner Stimme 4|2020: „Nur geeintes Europa kann für Frieden eintreten“

Für Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, haben die Fliehkräfte innerhalb der Europäischen Union durch die Corona-Krise zugenommen. Sie plädiert daher mehr denn je für ein gemeinsames Vorgehen in der EU. Dabei spielt für sie ein soziales Europa eine wichtige Rolle, wenn es um Frieden und Stabilität geht. Warum dabei auch Anhängerinnen und Anhänger von „Fridays for Future“ eigentlich auch für Frieden demonstrieren, erklärt die Europaabgeordnete im Interview.

BERLINER STIMME: In einem Interview unmittelbar vor der Europawahl im vergangenen Jahr hast Du mal folgende Aussage gemacht: „Ich weiß aber auch, dass dieses friedliche Europa alles andere als selbstverständlich ist. Nie war die Einheit Europas so sehr gefährdet wie jetzt.“ Wie siehst Du es knapp ein Jahr danach?

Katarina Barley: Leider haben die Fliehkräfte, die an unserem geeinten Europa zerren, eher zugenommen. Wir sehen, dass es gerade zu Anfang der Corona-Pandemie viele nationale Alleingänge gab. Dieses nicht abgestimmte Handeln der Mitgliedstaaten hat bei vielen Menschen den Eindruck hinterlassen: Wenn es hart auf hart kommt, ist sich jedes Land selbst das Nächste.

Dabei macht das Virus vor Grenzen keinen Halt und wir können die Pandemie und deren Folgen nur gemeinsam bewältigen. Deshalb plädieren ich dafür, dass wir gerade angesichts der anti-europäischen Tendenzen in der Krise mehr Europa brauchen. Auch macht mir unsere gemeinsame europäische Wertebasis von Rechtsstaat und Demokratie große Sorgen. Nur wenn wir diese Basis erhalten, wird Europa gestärkt aus dieser Krise hervorgehen.

Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europäischen ParlamentsKatarina Barley/www.katarina-barley.de
Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments: „Der Virus macht vor Grenzen nicht Halt – wir können die Krise nur gemeinsam bewältigen.“

Gerade in der Flüchtlingsthematik versuchen immer wieder Populistinnen und Populisten sowie Nationalistinnen und Nationalisten in der EU an Einfluss zu gewinnen: Welche Gefahr bildet diese Gruppe für den Frieden innerhalb der Europäischen Union?

Die Gefahr, die von diesen Gruppierungen für den Zusammenhalt Europas ausgeht, ist real. Sie schüren nationale Ressentiments, teilweise sogar Hass. Ich glaube, dass viele Menschen im Grunde zur Empathie und zur Solidarität gewillt sind. Populistinnen und Populisten, Nationalistinnen und Nationalisten wecken jedoch die genau gegenteiligen, negativen Emotionen.

Damit diese bei den Menschen nicht fruchten, muss Europa ihnen zeigen, dass es das Leben für jeden Einzelnen besser macht, dass wir alle davon profitieren, wenn Europa stark ist und zusammenhält. Wenn wir dieses Narrativ auch mit konkreten Maßnahmen der Humanität und Solidarität in der Krise verbinden, graben wir den Marktschreiern des Nationalismus das Wasser ab.

Im Zuge der Coronakrise haben beziehungsweise hatten verschiedene Staaten der EU vorübergehend ihre Grenzen geschlossen. Daher sei einmal gefragt, wie hoch schätzt Du den Wert von offenen Grenzen ein?

Man kann den Wert der offenen Grenzen gar nicht hoch genug beziffern. Ich wohne im Vier-Länder-Eck Luxemburg, Belgien, Frankreich, Deutschland. Dort pendeln jeden Tag 200.000 Menschen über die Grenzen. In anderen Grenzregionen Deutschlands ist es ähnlich. Und offenen Grenzen bedeuten ja nicht nur eine wirtschaftliche Verflechtung.

Sie sind Ausdruck eines gemeinsamen Lebensraumes, einer tagtäglichen Begegnung und Verständigung. Ich plädiere dafür, die Grenzen so schnell wie möglich wieder zu öffnen, zumal geschlossene Grenzen bei ähnlichen Infektionszahlen und Pandemiemaßnahmen auf beiden Seiten auch keinen Sinn ergeben.

Wie passt für dich ein soziales Europa mit Frieden und Sicherheit zusammen?

Beides geht für mich Hand in Hand. Wir können nur in Frieden und Sicherheit in Europa leben, wenn die EU für alle Bürgerinnen und Bürger, besonders die sozial Schwächsten und Ausgegrenzten, ein Ort der Hoffnung ist.

Wenn wir durch europäische Mindestlöhne beispielsweise einen Dumping-Wettbewerb der Länder untereinander verhindern und dafür sorgen, dass jeder in Europa von seiner Hände Arbeit leben kann, dann bedeutet das auch mehr Akzeptanz der Menschen für Europa. Dann bietet ihnen Europa konkret Schutz und Sicherheit vor sozialer Ausbeutung.

Junge Menschen in Europa – Stichwort: „Fridays for Future“ – demonstrieren heutzutage für Klima- und Umweltschutz. Der Aspekt Frieden wird dabei weniger aufgegriffen. Ist Frieden im Alltag eine Selbstverständlichkeit geworden?

Wir erinnern dieses Jahr am 8. Mai an den 75. Jahrestag der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus und das Ende des Zweiten Weltkrieges. 75 Jahre Frieden klingt erstmal nach einer langen Zeit. Wenn man sich allerdings die Jahrhunderte davor anschaut, in denen Europa von Kriegen geprägt war, dann sehen wir, wie außergewöhnlich dieser Frieden ist, den uns die europäische Einigung beschert.

Es hilft, sich das auch im Alltag bewusst zu machen und für dieses geeinte Europa zu streiten. Im Übrigen glaube ich, dass viele junge Menschen, die für mehr Klimaschutz eintreten, dies in dem Bewusstsein tun, dass der Schutz unserer Lebensgrundlagen auch entscheidend zum Frieden beiträgt.

Welche Rolle wird die EU in Zukunft für den Frieden auf dem Kontinent und in der Welt spielen?

Das ist eine große Frage. Ich denke, die Corona-Pandemie hat uns allen vor Augen geführt, wie schnell wir wieder in alte, nationale Denkmuster zurückfallen. Sie zeigt uns aber gleichzeitig, wie sehr wir in Europa voneinander abhängen und aufeinander angewiesen sind.

Ich würde mir wünschen, dass wir uns nach der Krise zusammensetzen und genau analysieren: Welche Kompetenzen müssen wir der EU übertragen, damit sie krisenfester ist, damit wir künftig gerade in Notsituationen stärker mit einer Stimme sprechen können. Wenn wir das schaffen, halten wir Europa zusammen und können glaubwürdig für Frieden und Verständigung in der Welt eintreten.

Autor:in

Sebastian Thomas

Redakteur der BERLINER STIMME und des vorwärtsBERLIN