Olof Palme, Mário Soares, natürlich Willy Brandt. Die 1970er-Jahre kannten viele sozialdemokratische Ausnahmegestalten. Die Blütezeit der europäischen Sozialdemokratie wurde nicht zufällig stark durch Menschen geprägt, deren Politisierung eng mit den Schrecken des Zweiten Weltkrieges und dem Kampf gegen den Faschismus verbunden war.
Auch in Österreich ist diese Zeit mit einem Namen verknüpft, der wie kein Zweiter sinnbildlich für die SPÖ steht und Mythos wurde: Bruno Kreisky. In seinem Buch „Lernen S‘ Geschichte, Herr Reporter!“ erzählt der Journalist Ulrich Brunner anekdotenreich vom Kanzler, aber auch vom Menschen Kreisky und spart nicht an teilweise kontroversen Einschätzungen zur aktuellen Lage der SPÖ.
Den Journalisten Brunner und den Politiker Kreisky verband eine lange gemeinsame Zeit sowohl in der SPÖ als auch in der österreichischen politischen Öffentlichkeit. Als Kreisky 1967 SPÖ-Vorsitzender wurde, war Brunner Reporter bei der Neuen Zeitung, einem Boulevardblatt sozialdemokratischer Prägung.
Zur Zeit der Kanzlerschaft Kreiskys mit absoluter SPÖ-Mehrheit berichtete Brunner zunächst als Redakteur und später auch als Redaktionsleiter für den ORF. Dass Brunner und Kreisky weit über ihre gemeinsame Wirkungszeit hinaus in der österreichischen Öffentlichkeit miteinander verbunden bleiben, liegt an der titelgebenden Episode vom Februar 1981.
Im Rahmen des wöchentlichen Pressefoyers maßregelte der Bundeskanzler den Journalisten angesichts einer Nachfrage mit dem Satz „Lernen S‘ a bisserl Geschichte, Herr Reporter!“, der in Österreich zum geflügelten Wort wurde. Diese und weitere bekannt gewordene und bis dato unbekannte Geschichten werden von Brunner kurzweilig und amüsant erzählt.
Die Stärke des Buches besteht zweifellos darin, seine Leserinnen und Leser anekdotisch in eine Zeit zu entführen, die oft mythisch überladen als die gute alte Zeit verklärt wird. Ob diese Zuschreibung zutrifft bleibt allen selbst überlassen, die der Autor mit auf eine Reise in informelle Gesprächsrunden, wuchtige Zitate und das liebevoll schlecht gelaunte politische Wien mit seinem charismatischen Schmäh nimmt.
Da wird der geplante Opernbesuch am Abend gerne einmal auf den zweiten Akt verschoben, weil der erste „eh fad“ sei. Jedenfalls im Vergleich zum stundenlangen Monolog im Garten bei Kaffee und Kuchen. Diese Zeit ist hochspannend, weil sie politische Gestaltungskraft entwickelt und gesellschaftlichen Fortschritt schafft, aber kommt bisweilen auch zäh daher, weil Männer, die viel erlebt haben, davon eben auch gerne ausschweifend referieren.
Dabei lässt Brunner auch nicht aus, dass Kreisky durchaus auch mit kritischen Aspekten seiner Persönlichkeit zu kämpfen hatte und als in eine assimilierte jüdische Familie geborener Agnostiker häufig mit der eigenen Identität und der politischen Realität in Widersprüche geriet, etwa in seiner Auseinandersetzung mit Simon Wiesenthal 1975 oder in seiner Wahrnehmung in Israel.
Auch Brunner, Jahrgang 1938, ist durchaus nicht unumstritten, seit er 2010 in einem Gastkommentar für eine restriktivere Zuwanderungspolitik und ein Ende der „Multikulti-Träume“ warb, um auf diese Weise die Zugewinne der rechtspopulistischen FPÖ zu schmälern. Eine öffentliche Kontroverse folgte postwendend.
Die Frage, ob Kreisky derlei strategische Erwägungen nicht eher als fürchterlich anbiedernd empfunden hätte, muss leider unbeantwortet bleiben. Der langjährige Regierungschef starb bereits 1990 in seiner Wiener Heimat. So ist das Buch dann eben auch die Geschichte zweier Männer, deren Biographien eng mit dem Aufstieg der SPÖ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zusammenhängen und mehr nostalgischer Rückblick als Widerhall in die sozialdemokratische Gegenwart.
Trotzdem bleibt beim Lesen der Eindruck, dass politische Mehrheiten auch eine Frage vertrauenswürdigen Personals sind und persönliche Lebensläufe einen wichtigen Einfluss auf diese Wahrnehmung in der Bevölkerung ausmachen. Auf dem Klappentext wird Kreisky als „Jahrhundertkanzler“ bezeichnet. Wahrscheinlich erreichen politische Akteure derartige Zuschreibungen nur, wenn solche Bücher über sie möglich sind.
Felix Bethmann
Schreibt für die BERLINER STIMME und den vorwärtsBERLIN