Michael MasurSebastian Thomas

Berliner Stimme 7|2019: „Michael, das geht schneller als du denkst“

Als der berühmte Dirigent Kurt Masur am 9. Oktober 1989 auf der großen Montagsdemonstration in Leipzig alle Beteiligten zur Gewaltfreiheit aufruft, ist sein Sohn Michael Masur in Ost-Berlin. Nach dem Mauerfall fährt dieser über die Grenze – zu einer ganz bestimmten Adresse.

Es ist ein herbstlich-kühler Samstagabend in Berlin. Menschen versammeln sich auf der Straße und es werden immer mehr. Es herrscht ausgelassene Stimmung – bis Einsatzwagen der Volkspolizei vorfahren. Sicherheitskräfte steigen aus und prügeln wenig später auf die Demonstranten ein. Kameras westlicher Medien stehen direkt daneben und filmen das brutale Vorgehen des DDR-Sicherheitsapparats gegenüber seinen Bürgerinnen und Bürgern. Es ist der 7. Oktober 1989.

Zwei Tage später kommt es in Leipzig zu einer der größten Montagsdemos, die die Stadt je gesehen hat. Wieder stehen sich Demonstranten und Sicherheitskräfte gegenüber. Wieder liegt Eskalation in der Luft. Am Ende bleibt die Demonstration friedlich. Das liegt nicht zuletzt an einem Mann: Gewandhauskapellmeister Kurt Masur. 40 Sekunden lang wendet er sich über Lautsprecheranlagen des Leipziger Stadtfunks an beide Parteien. Dabei spricht er mit ruhiger aber kraftvoller Stimme: „Wir bitten Sie dringend um Besonnenheit, damit der friedliche Dialog möglich wird.“ Dieser und weitere Sätze werden berühmt – als Aufruf der „Leipziger Sechs“. „Vati hatte Angst, dass es eskaliert“, sagt 30 Jahre später sein Sohn Michael Masur. Er ist das älteste von fünf Kindern. Der heute 69-Jährige führt die Besucher durch seine Klavierwerkstatt in Kaulsdorf im Bezirk Marzahn-Hellersdorf. Wo er am 9. Oktober 1989 war, weiß er noch ganz genau: „Neben meiner Festanstellung an der Staatsoper Berlin habe ich noch in einer Band gespielt“, sagt er. Abends habe man ein Konzert gespielt. Angesprochen auf die Frage, warum er glaubte, dass es in jener Nacht in Leipzig friedlich blieb, antwortet Michael Masur: „Ich denke, es lag ein klein wenig an dem Respekt gegenüber meinem Vater und weil die Menschen damals zurück- haltender waren.“ Heute, meint er, wäre vielleicht jemand dabei, der einen Stein in die Hand nehmen würde.

Kurt Masur verließ seine erste Frau Brigitte, die Mutter von Michael Masur, für eine andere Frau. Und dennoch: Wenn Michael Masur über seinen Vater spricht, ist es sehr liebevoll. „An wichtigen Eckpunkten in meinem Leben war Vati stets da“, sagt der 69-Jährige. Von „Vati“ stamme auch die Idee einer Klavierbauerlehre. Später fängt er bei der Staatsoper Unter den Linden an. Bis heute stimmt er dort die Instrumente.

Ende des Jahres 1988 erreicht ihn über den Vater eine Einladung zu einem Praktikum nach West-Berlin ins Steinway-Haus – einem Hersteller für Klaviere und Flügel. Zu Weihnachten desselben Jahres bekommt er einen Reisepass. Sein Visum gilt bis 30. Juni 1989. Am Ende des halben Jahres überlegt er sich, ob er nicht einfach in West-Berlin bleiben soll. Er entscheidet sich dagegen – für seine Frau und seine Kinder. Zum Abschied sagt Michael Masur zum Leiter des Steinway-Hauses, dass man sich so schnell wohl nicht mehr wiedersehen werde. Der entgegnet ihm mit Blick auf die Grenzöffnung in Ungarn: „Wirst sehen Michael, das geht wesentlich schneller als du denkst.“ Er sollte Recht behalten: Vier Monate später fällt die Berliner Mauer. „Wir sind am 13. November 1989 mit unserem Trabi über die Grenze zum Steinway-Haus gefahren“, sagt Michael Masur und lacht.

Autor:in

Sebastian Thomas

Redakteur der BERLINER STIMME und des vorwärtsBERLIN