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Berliner Stimme 8|2019: Wenn die eigenen nicht die leiblichen Kinder sind

Die Zahl der Pflegekinder in Berlin ist hoch, genügend Pflegeeltern gibt es jedoch nicht. Ellen Hallmann ist Sozialpädagogin und arbeitet für „Pflegekinder Berlin“. Sie berät potenzielle Pflegeeltern über das, was auf sie zukommt. Eine davon ist Pflegemutter Stefanie Kwiotek. Sie hat 2011 zusammen mit ihrem Mann zwei Pflegekinder aufgenommen.

Stefanie Kwiotek wollte schon immer Kinder. Mittlerweile hat sie zwei Töchter: Laura und Luisa, 10 und 12 Jahre alt. Wenn die studierte Grundschullehrerin über die beiden Mädchen spricht strahlt sie über das ganze Gesicht, doch: Ihre Töchter stammen nicht von ihr. Laura und Luisa sind Pflegekinder.

„Mein Wunsch war es eine Familie zu gründen“, sagt sie. Nach Fehlgeburten gaben sie und ihr Mann den Wunsch schließlich auf. Wie es der Zufall will, waren zur damaligen Zeit unter den Schülern in ihrer Klasse zwei Pflegekinder und „ich habe beobachtet, wie gut sich beide von der ersten bis zur vierten Klasse entwickelt haben“.

Darin sah die 51-Jährige einen Weg, um doch noch Mutter zu werden und nebenher noch etwas Gutes zu tun, wie sie sagt. Für Sozialpädagogin Ellen Hallmann von der gesamtstädtischen Beratungsstelle Familien für Kinder sind Menschen wie Stefanie Kwiotek ein wahrer Glücksgriff, denn sie werden gebraucht.

Zahlen der Bewerberinnen und Bewerber für eine Pflegeelternschaft schwanken

Der Fachdienst ist in einem Bürokomplex gegenüber des Askanischen Platzes untergebracht. Mit dem Fahrstuhl geht es hoch in den dritten Stock. Oben angekommen bestimmen die Farben orange und blau das Erscheinungsbild. Die Seminarräume tragen keine Nummern, sondern Namen wie Anna oder Dora.

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Ellen Hallmann steht vor einem Seminarraum der Beratungsstelle Familien für Kinder.

In einem dieser Zimmer hört man Stimmengewirr und Kinderlachen – gerade wird ein Kind seinen zukünftigen Pflegeeltern vorgestellt, erklärt Ellen Hallmann. „Zurzeit haben wir in Berlin ungefähr 2.600 Pflegekinder“, sagt die Sozialpädagogin. Jährlich würden die Berliner Jugendämter und Pflegekinderdienste in freier Trägerschaft im Durchschnitt für 500 bis 700 Kinder, die nicht mehr bei ihren leiblichen Eltern leben können, zeitlich befristet oder dauerhaft ein neues Zuhause suchen.

„Dem gegenüber schwanken unsere Bewerberzahlen zwischen 400 und 500. Diese Personen melden sich zwar bei uns, werden aber am Ende nicht alle Pflegeeltern“, erzählt die 49-Jährige. Dafür gebe es unterschiedliche Gründe: „2018 haben wir quantitative Daten erhoben. Laut der Befragung werden ungefähr zwei Drittel der Bewerberinnen und Bewerber auch Pflegeeltern, nur braucht jedes Paar unterschiedlich lang bis es als Pflegeeltern in Betracht kommt.“

„Wenn es alle zwei Jahre keine Webekampagne gibt, haben wir sinkende Teilnehmerzahlen bei den Infoabenden.“

Ellen Hallmann

Manchmal würden Leute im Bewerbungsprozess ein Jahr Pause einlegen, andere hätten eine ganz bestimmte Vorstellung, welches Pflegekind sie sich wünschen. „Die Diskrepanz zwischen der gewünschten und der tatsächlichen Anzahl von Pflegeeltern ist dementsprechend hoch“, erklärt Ellen Hallmann.

„Wenn es alle zwei Jahre keine Webekampagne gibt, haben wir sinkende Teilnehmerzahlen bei den Infoabenden für zukünftige Pflegefamilien“, sagt sie. Die erste große Kampagne war 2012: „Im Zuge der Werbeaktivitäten wurde unsere Internetseite verbessert. Nun sind wir für Interessenten im Netz gut zu finden, weil sie bei der Suchmaschine Google bei einer Anfrage als erstes Suchergebnis erscheint“, erklärt die 49-Jährige.

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Werbung der gesamtstädtischen Beratungsstelle hängt in den Berliner S- und U-Bahnen.

Die Werbeaktivitäten hatten eine Verdopplung der Bewerberzahlen zur Folge. „Diesen Effekt haben wir jetzt auch wieder bei unserer aktuellen Werbung deutlich gemerkt: Ab September dieses Jahres sind wir gestartet und normalerweise haben wir im Schnitt ein bis zwei Infoabende im Monat für angehende Pflegeeltern“, sagt Ellen Hallmann und ergänzt: „Jetzt haben wir mitunter drei Veranstaltungen. Dabei melden sich die meisten Bewerber über die Internetseite an.“

Pflegekinder bleiben dauerhaft

Stefanie Kwiotek und ihr Mann gehören in der genannten Studie zu der Gruppe von Bewerberinnen und Bewerbern, die nach den Vorbereitungsseminaren noch einmal genau über eine Pflegeelternschaft nachdachten. Sie stellten sich die eine Frage: Was wenn die leibliche Mutter ihre Kinder wieder zurückhaben möchte?

„Wenn dieser Fall eingetreten wäre, dann wollten wir das zuliebe der Kinder aushalten.“ Jedoch beließ die Mutter von Luisa und Laura ihre beiden Töchter in der Pflegefamilie. Dafür trat die von Stefanie Kwiotek erhoffte Situation ein: Die beiden Mädchen blieben dauerhaft.

Warum Kinder aus ihrer ursprünglichen Familie genommen werden, kann viele Ursachen haben: „Soziale Armut, Überforderung der leiblichen Eltern, Alkohol- oder Drogenprobleme und psychische Erkrankungen“, zählt Ellen Hallmann auf. Leidtragende seien die Kinder, denn sie könnten „vernachlässigt oder gar misshandelt werden“, sagt die Sozialpädagogin.

Voraussetzungen für zukünftige Pflegeeltern

Finden sie und ihre Kollegen dann im Anschluss eine Pflegefamilie, müssten die neuen Eltern nicht perfekt sein: „Wir sprechen von einer hinreichend guten Mutter – von Menschen, die einfach Lust auf ein fremdes Kind haben“, sagt sie. Interessenten müssten lediglich ein paar Voraussetzungen mitbringen: „Uns sind biographische Erfahrungen wichtig, also sind die angehenden Pflegeeltern selbst in ihrer Kindheit gut aufgewachsen“, erklärt Ellen Hallmann.

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Pflegemutter Stefanie Kwiotek (l.) und Sozialpädagogin Ellen Hallmann sind ein eingespieltes Team.

Außerdem seien soziale Ressourcen wichtig: „Wir schauen, wer mit zur Familie gehört, also Verwandte und Freunde“, sagt sie. „Darüber hinaus machen wir auch Hausbesuche, einfach um zu sehen, wie das Bewerberpaar wohnt.“ Rein formal sei ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis erforderlich, ein Gesundheitsattest sowie ein Einkommensnachweis.

„Die Bewerberinnen und Bewerber können auch Elternzeit nehmen“, erklärt die Sozialpädagogin. Zum Teil würde man das auch erwarten. Einmal im Jahr finde ein Hilfegespräch mit der zuständigen Sozialarbeiterin beziehungsweise dem Sozialarbeiter statt. Das war Stefanie Kwiotek recht: „Ich konnte länger in Elternzeit gehen und habe einen 450-Euro-Job gemacht.“ Das habe sie auch nicht gestört.

Es ist schlichtweg soziales Engagement gepaart mit Liebe und viel Geduld.

Stefanie Kwiotek

Pflegeeltern erhalten für die Betreuung laut Ellen Hallmann ein Pflege- und Erziehungsgeld, gegliedert nach Altersgruppen. Wenn das Kind einen erhöhten Förderbedarf hat würden Pflegeeltern auch ein höheres Erziehungsgeld erhalten. An dieser Stelle betont Ellen Hallmann: „Wegen Geld nimmt man aber kein Pflegekind auf.“

Eher sei das weit stärkere Motiv: „Ich helfe einem fremden Kind.“ Das bestätigt auch Stefanie Kwiotek: „Es ist schlichtweg soziales Engagement gepaart mit Liebe und viel Geduld.“ Letzteres mussten sie und ihr Mann 2011 als sie Luisa und Laura zum ersten Mal trafen unter Beweis stellen. Zu diesem Zeitpunkt sind die Geschwister drei und eineinhalb Jahre alt.

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Ellen Hallmann unterstützt und berät Menschen, die sich als Pflegeeltern bewerben.

„Laura war völlig distanzlos“, erzählt Stefanie Kwiothek. „Sie wollte gleich auf den Arm genommen werden und wäre sofort mit uns mitgekommen.“ Ganz anders Luisa: „Sie war zurückhaltend, schüchtern und körperliche Nähe konnte sie zu Anfang gar nicht zulassen.“ Mittlerweile habe sie sich geändert: „Luisa ist verkuschelt und ist ein richtiges Papakind geworden“, sagt die 51-Jährige und lacht freudig.

Mit der leiblichen Mutter gut befreundet

Die ursprüngliche Familie lasse die kleine Pflegefamilie aber nie ganz los, was Stefanie Kwiotek und ihr Mann aber auch nicht möchten. „Pflegeeltern lassen viele Menschen in ihr Leben: Einen Vormund, den Pflegekinderdienst und Personen, die familiär in Kontakt mit dem Kind stehen“, erklärt die 51-Jährige.

Dabei sind Stefanie Kwiotek und ihr Mann der lebende Beweis, dass Pflegeeltern die leibliche Mutter nicht nur persönlich kennen, sondern sich auch gut mit ihr verstehen. „Alle drei Monate machen wir zusammen einen ganzen Tag lang Ausflüge.“ Dann gehe es in den Zoo oder ins Schwimmbad. Auch zuhause bei den Kwioteks habe die leibliche Mutter aufgrund eines Videoabends schon übernachtet.

Es ist die schönste Sache der Welt.

Stefanie Kwiotek

Pflegekinder bei sich aufzunehmen, außerdem fremde Menschen in sein Leben lassen und noch dazu sich vor Behörden offenlegen – ist es das alles überhaupt wert? „Auf jeden Fall“, sagt Stefanie Kwiotek ohne zu zögern, „es ist die schönste Sache der Welt.“ Jeder Mensch, der Kinder mag, solle es machen.

„Laura und Luisa sind die tollsten Kinder der Welt, ich würde niemals mehr tauschen wollen.“ Außerdem würden sie dem Ehepaar immer ähnlicher werden. Wenn Luisa und Laura die Volljährigkeit erreichen ist laut Gesetzgeber die Vollzeitpflege beendet. Und dann? „Ich und mein Mann möchten den Kontakt halten“, antwortet die 51-Jährige und fügt hinzu: „Genau wie es andere Eltern bei ihren leiblichen Kindern tun.“

Mehr Informationen auf www.pflegekinder-berlin.de

Autor:in

Sebastian Thomas

Redakteur der BERLINER STIMME und des vorwärtsBERLIN