Anne-Kathrin Pauk (l.), bis zu diesem Zeitpunkt Vorsitzende des SPD-Bezirksverbandes Ost-Berlin, erhält nach dem Zusammenschluss mit dem West-Berliner SPD-Landesverband, als erste ihr Parteibuch aus der Hand von Hans-Georg Lorenz, damals Geschäftsführender Landesvorsitzender.SPD Berlin/Paul Glaser

Vor 30 Jahren: Mit Mut zur Gesamt-Berliner SPD

Am 15. September 1990 schlossen sich der SPD Bezirksverband Ost und der Landesverband der (West-) Berliner SPD auf einem Parteitag zu einem gemeinsamen Landesverband zusammen. An diese Zeit erinnert sich im Interview Anne-Kathrin Pauk. Sie war bis zu diesem Zeitpunkt Vorsitzende des SPD-Bezirksverbandes Ost-Berlin.

BERLINER STIMME: Erinnern wir uns einmal zurück: Welches Gefühl verbindest du mit dem Vereinigungsparteitag zwischen Berliner SDP und SPD?

Anne-Kathrin Pauk: Das Gefühl ist immer noch Erleichterung, dass ich ihn überlebt habe (lacht), weil die Zeit seit der Gründung der SDP in Ost-Berlin bis zum 14. und 15. September 1990 war ein extrem tolles, aber auch sehr anstrengendes Jahr. Jeden einzelnen Tag tat ich etwas, was ich noch nie in meinem Leben zuvor gemacht hatte.

Ich wusste überhaupt nicht, wie manches funktioniert und doch ging alles immer irgendwie seinen Gang. Ich hatte in meinem Leben noch nie eine Partei mitbestimmt und geformt, hatte keine Ahnung, wie das geht. Aber man lernt ja schnell. Auf mich als Vorsitzende kamen jeden Tag Menschen zu, für die ihr Problem eines von vielleicht drei oder zehn war.

Bei mir lief zu diesem Zeitpunkt eher die Summe Tausend Probleme auf (lacht). Und doch musste man in jedem einzelnen Gespräch voll und ganz bei eben diesem Problem sein. Wir haben jeden Tag etwas getan, was wir nicht konnten, es dann aber eben doch vollbrachten. Irgendwie, mit Mut, Überzeugung, Vertrauen – und auch Unterstützung seitens der West-Berliner SPD.

Der Landesverband hat uns in dieser Zeit seinen Apparat zur Verfügung gestellt, war mit seinem „Ost-Agenten“ Andreas Bauch, beauftragt mit der Organisation der Kommunikation zwischen Ost und West, ausgerüstet mit einem C-Netz-Telefon, auch personell, wo es wichtig war, mit vor Ort. Andere wären hier auch zu nennen.

Das Kurt-Schumacher-Haus (KSH) half bei der größten Sorge, der Gleichzeitigkeit von organisatorischem Aufbau und unseren Aufgaben als Revolutionäre (lacht) und denen an den Runden Tischen auf allen Ebenen, im Roten Rathaus und in den Ost-Berliner Bezirken.

Nebenbei haben wir noch eine Zeitung herausgegeben – Uli Horb gilt hier ganz großer Dank -, alle Stasidienststellen mit den Vertreterinnen und Vertretern des Runden Tisches und Militärstaatsanwälten versiegelt sowie zur Arbeit an einer neuen Berliner Verfassung den Startschuss gegeben – und haben unsagbar viel mehr geleistet, von dem ich nicht einmal weiß, weil in jedem Kreis etwas passierte.

Man hatte kaum die Zeit, es weiterzuerzählen – das wäre wirklich eine Geschichte, die wir Ost-Berliner Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mal zusammen erzählen sollten. Ich weiß, einige Kreise haben ihre Geschichte bereits dokumentiert.

Die Genossinnen und Genossen im KSH haben uns damals geholfen, diesen Parteitag organisatorisch vorzubereiten und durchzuführen. Zuerst haben wir, die Ost-Berliner SPD auf dem Messegelände in Messehalle 14 getagt, und in der größeren Messehalle 15 hat die Westberliner SPD ihre Tagung abgehalten.

Den zweiten Tag des Parteitags absolvierten wir gemeinsam. Wenn ich mich richtig erinnere, hat Manfred Stolpe diesen zweiten Tag auf meine Bitte hin eröffnet, weil wir ein Signal in Richtung Berlin-Brandenburg setzen wollten, was nachhaltig erfolglos blieb.

Was wir mit der Vereinigung zur Gesamt-Berliner SPD zu einem Zeitpunkt vor der Vereinigung der SPD der alten und der neuen Bundesländer klarmachen wollten: Berlin war das einzige ganz neue Bundesland. Man spricht stets von den neuen und den alten Bundesländern. Aber hier in Berlin, dem einzigen Bundesland, das aus Alt und Neu bestand, waren wir einfach ein Stück weiter.

Wir waren quasi das einzige ganz neue Bundesland – im Herzen eh immer ein Berlin, aber jetzt kamen wir auch praktisch schnell zusammen. Das kann man, ohne auf das ortsübliche prinzipielle Selbstbewusstsein zurückzugreifen, als Tatsache festhalten: Hier lief alles – alles Denkbare und Undenkbare – von letzterem vielleicht etwas mehr – schneller ab, quasi wie in einem Brennglas.

Auch die noch zweigeteilte SPD in Berlin agierte schon wie eine Gesamt-Berliner Partei. Die Bundes-SPD war da gedanklich und praktisch eher am großen innerdeutschen Abstand orientiert. Das liegt sicher auch in der Natur der Sache, aber als Ratgeber hat man uns auch nicht bemüht – sag ich jetzt mal so, obwohl wir damals genug zu tun hatten.

Anne-Kathrin PaukSPD Berlin/Sebastian Thomas
Anne-Kathrin Pauk im Friedhofspark des Vereins „Freigeistige Gemeinschaft Berlin“, deren Vorsitzende sie heute ist.

BERLINER STIMME: Was habt ihr genau vollbracht?

Anne-Kathrin Pauk: Aus Bonner Sicht war Berlin sicher immer etwas Besonderes. Da haben sie ja auch recht. Man hat vielleicht immer auch ein bisschen verwundert auf diese Frontstadt geblickt, in der die Menschen so viel hautnah erlebt haben, was andere nur aus Büchern oder Filmen kennen. Das Verständnis von Ost und West füreinander war bei uns viel weiter vorangeschritten, was jetzt nicht nach eitel Sonnenschein klingen soll, eher nach Klarheit und auch Abgeklärtheit.

Es gab West-Ost-Partnerschaften zwischen den einzelnen SPD-Kreisen. Dadurch kannte man sich. Jeder Wessi kannte einen Ossi, jeder Ossi einen Wessi. Im Saarland passierte so etwas nicht so schnell. Ohne Übertreibung kann man sagen, der Unterschied betrug Lichtjahre. Unsere schnelle Annäherung und unser lernendes Zusammengehen wollten wir mit der frühen Vereinigung in Berlin demonstrieren – und dafür werben.

Wenn sich die SPD der DDR und der Bundesrepublik zusammenschließen würden, wollten wir als Gesamt-Berliner SPD kommen. Der Parteivorstand hat davon wenig Notiz genommen – auch im Nachhinein.

BERLINER STIMME: Kannst du das näher erklären?

Anne-Kathrin Pauk: Es war ein wichtiger Schritt der Berliner SPD, aber es war auch ein Formierung demokratischer Strukturen mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen – innerhalb einer Stadt. Wir hatten die beiden Stadthälften, zwei Drittel der Bevölkerung in West-Berlin, ein Drittel in Ost-Berlin, 28.000 Mitglieder der Westberliner SPD und 2.800 in Ost-Berlin.

Das passte nicht zusammen, nicht in Bezug zur Bevölkerung, noch innerhalb der Partei. Mit diesen Zahlen auf der Grundlage des Parteiengesetzes einen beschlussberechtigten Landesparteitag zusammenzubasteln, war auch nicht der Wunschtraum von Juristinnen und Juristen in Berliner SPD.

Der Grundsatz „Eine Person – eine Stimme“ musste ja eher umschifft werden, als dass man ihm Rechnung tragen konnte. Für die Ost-Berliner Revolutionäre, die die Demokratie zu erkämpfen losgezogen waren, eine Enttäuschung, für die West-Berliner dasselbe. Das war eine Krücke, die man damals rechtfertigen konnte.

Ein gemeinsamer Landesparteitag, aus den am 14. September demokratisch innerhalb der Parteigliederungen der beiden Stadthälften gewählten Delegierten bestehend, die wiederum ihre Kandidatinnen und Kandidaten für den gemeinsamen Landesvorstand nominierten, um dann gemeinsam zu wählen und die Vereinigung gebührend zu feiern.

Die Zusammensetzung des Landesparteitags war eine Übergangslösung, weil alle davon ausgegangen sind, dass man in der Ost-Berliner SPD künftig überall mehr Mitglieder gewinnt. Das ist nur punktuell passiert, was mehr mit der Hauptstadtfunktion Berlin als mit der Strahlkraft der SPD zu tun hat.

Ich kenne die ganz genauen Zahlen nicht, vor ein paar Jahren las ich den Bericht des Landesverbandes – die Zahlen waren nicht sehr viel anders als 1990, außer dass es in den Westbezirken jetzt deutlich weniger Mitglieder gibt. Hellersdorf-Marzahn liegt glaube immer noch so bei 150, hoffentlich 200 Leuten.

Das waren damals schon 150, und das sind auch noch zum Großteil dieselben Leute, wo ich nun ganz gewiss nichts gegen einzuwenden habe – aber es braucht mehr für eine Volkspartei. Das trübt die Erinnerung schon.

BERLINER STIMME: Ihr wart, sagtest du, zu dieser Zeit der Bundespartei Lichtjahre voraus. Wie hat sich das geäußert?

Anne-Kathrin Pauk: Auf jeden Fall, auch im Verständnis. Es ist bis heute so, dass, wenn ich als Ossi auf einen Wessi treffe, die oder der jetzt erst ein paar Jahre in Berlin lebt und er oder sie bemerkt, dass ich Ostdeutsche bin, dann erzählt sie/er mir, wenn es sich beispielsweise um irgendeine Musik oder um eine Fernsehsendung handelt, wer und was das ist.

Das ist total absurd, weil alle Ossis, außer in Dresden, haben natürlich Westfernsehen geschaut. Meine Medien-Sozialisierung als Ossi ist dieselbe wie die eines Wessis – und das ist einer oder einem Westdeutschen immer noch ein Buch mit sieben Siegeln. Jeder Ossi hat unausweichlich alles über den Westen lernen müssen, weil er fortan im Westen lebte.

Aber der Wessi hat überhaupt gar nichts über den Osten lernen müssen, das war und ist eine schöne Sache, aber nicht nötig. Natürlich gibt es immer „sone und solche“, und die guten Beispiele geraten bei Pauschalisierungen stets unter die Räder – aber die West-Berliner waren einfach näher dran. Die Aufgabe für West-Berliner war jetzt nicht so groß, aber es hat wirklich tätige Partnerschaft und Nähe gegeben.

Das muss man wirklich sagen. Wir hatten die zwölf Ost- und die 13 West-Berliner Kreise. Da pflegten wir wirklich sehr gute und enge Partnerschaften. Sicher gab es auch Knatsch, wo nicht, aber man kannte sich und diese informellen Strukturen haben geholfen. Die Sprache der anderen kennenzulernen war wichtig – und manchmal ein bisschen wie „lost in translation“.

Man lernte  die Unterschiede, warum spricht der Wessi von der Drei-Zimmer-Wohnung? Warum redet der Ossi von der Drei-Raum-Wohnung? Diese Kleinigkeiten sind zwar Petitessen, aber waren nicht unwichtig. Ich denke, im besten Falle hat jeder über die Unterschiede auch etwas über sich erfahren oder etwas mehr reflektiert – sag ich jetzt mal hoffnungsvoll.

BERLINER STIMME: Warum ist dir gerade dieses Verständnis zwischen Ost und West so wichtig?

Anne-Kathrin Pauk: Ich war 1990 – es war im ersten Drittel des Jahres – als Gastrednerin beim Unterbezirksparteitag der SPD Köln. Ich wurde herzlichst begrüßt. Es gab einen Riesenbeifall, extreme Anteilnahme, Spendenbereitschaft, Bewunderung sowie stehenden Applaus allein dafür, dass ich da hingekommen war und erzählte, was wir alles gemacht haben, auch aus Respekt vor der friedlichen Revolution und unserer Beteiligung daran.

Christine Bergmann (l.) und Thomas Krüger schwingen im Anschluss an den Einigungsparteitag das Tanzbein auf dem Fest "Berlin schlägt Wellen".SPD Berlin/Paul Glaser
Christine Bergmann (l.) und Thomas Krüger schwingen im Anschluss an den Einigungsparteitag das Tanzbein auf dem Fest „Berlin schlägt Wellen“.

Es war alles wirklich ganz toll. Aber als meine Rede zuende war, haben sie weiter über das Verhältnis der SPD zur SED beraten, wo ich mich dann fragte: Okay Köln, aber welcher Planet? Es wirft natürlich auch die Frage auf, wie ich meine Rede hätte besser gestalten können (lacht). Ein anderes Beispiel: die Aufgaben zur Herstellung der Einheit.

Hier in Berlin war jede Politikerin, jeder Politiker in Ost und West mit dieser Sache beschäftigt, sie oder er konnten ihr nicht ausweichen. Dadurch hatten wir ganz andere Sachen im Blick, meistens sehr praktisch und dem dringenden Handlungsbedarf Rechnung tragend. Klar, dass ist jetzt so eine Berliner Angelegenheit, so nach dem Motto: die Berliner sind die Besten, schon aus aus Prinzip (lacht), aber das ergibt sich aus der Geschichte der Stadt.

Hier sind so wahnsinnig viele Sachen passiert, so viel Entrechtung von Menschen, Elend, Hunger, Krieg, Inflation, Arbeitslosigkeit, und wieder Krieg, so ein gigantischer Durchbruch der Moderne, technische Sensationen – pulsierende Metropole, Trümmerhaufen, Frontstadt – fehlt noch was? Gewiss und auch 1989 und 1990 war es so.

Die Berlinerinnen und Berliner waren mit ihrem politischen Bewusstsein, egal ob im Ost- oder im Westteil der Stadt, unausweichlicherweise wacher als Leute in ruhigeren Teilen des Landes, denen die Aufgaben auch nicht so auf dem Tisch lagen wie uns, denn Bayern blieb unverändert, Baden-Württemberg ebenso, aber West-Berlin war eben nicht mehr West-Berlin, Ost-Berlin nicht mehr Ost-Berlin, und ringsherum erst recht nicht.

BERLINER STIMME: Warum haben sich deiner Meinung nach vielleicht die Mitgliederzahl von damals zu heute nicht großartig verändert haben? Was ist deine Kritik daran?

Anne-Kathrin Pauk: Es gibt natürlich einen Unterschied. Es gibt einige Kreise, wo ganz viele Mitarbeiter von Abgeordneten wohnen, wo ständig neue Leute hinzukommen. Aber es gibt Kreise, da passiert das nicht. Es kann ja nicht sein, dass die Anzahl der Mitglieder von der Attraktivität des Bezirks abhängt, sondern sie muss in Relation zur Bevölkerungszahl stehen.

Ein weiterer Grund liegt in der Organisation an sich. Wenn in einer Organisation 75 bis 85 Prozent der Leute die Mandate und Aufgaben unter sich aufgeteilt haben, dann ist jeder Neue ein potenzieller Wettbewerber. Daraus ergibt sich nicht unbedingt ein Interesse, neue Mitglieder zu werben. Und die Partei ist von sehr viel älteren Menschen geprägt.

Das ist super, aber nur wenn Junge dazukommen. Man muss mal gucken, wo das gelingt und warum. Mittlerweile kreist die Diskussion oft um die Frage, ob jüngere Menschen überhaupt noch in politischen Partei kommen. Es ist aber so verdammt wichtig, dass Demokratie erlernt und erfahren wird.

BERLINER STIMME: Erinnerst du dich, was du genau auf Vereinigungsparteitag gemacht hast?

Anne-Kathrin Pauk: Erst einmal bin ich froh, dass ich lebendig angekommen bin. Ich habe versucht, dafür zu werben, dass ich als stellvertretende Landesvorsitzende kandidieren kann. Das ist mir misslungen. Ich habe aber das beste Stimmenergebnis aller Beisitzerinnen und Beisitzer im Landesvorstand bekommen und war das jüngste Mitglied, dass der Landesvorstand bis dahin in der Berliner SPD hatte.

Immerhin ein Teilerfolg. Und ich habe auf dem Parteitag um zwei Uhr nachts einen Gastredner begrüßen dürfen. Er hielt eine flammende Rede vor völlig erschöpften, teils mit dem Kopf auf den Tisch liegend und schlafenden Delegierten, über die Wichtigkeit politischer Bildungsarbeit.

Alles richtig, was er gesagt hat. Das Verhalten einiger Delegierter war der einmaligen Anstrengung geschuldet. Man schaffte das, was demokratische Gepflogenheiten benötigten, nur unter Aufbietung aller körperlichen Kräfte, stets bis spät in die Nacht hinein. Am nächsten Tag war der gemeinsame Parteitag.

BERLINER STIMME: Ist die Vereinigung von beiden Parteien so verlaufen, wie du es dir vorgestellt hast.

Anne-Kathrin Pauk: Ich sage mal so, ob die Vereinigung gut gelaufen ist oder nicht, ist eigentlich nicht mehr so entscheidend. Der Punkt ist, und dass bis in die heutige Zeit hinein, ob die Berliner SPD die Zeichen der Zeit insgesamt erkennt und ihre Strukturen öffnet, modernisiert, verändert, sodass man in allen Teilen der Stadt Mitglieder gewinnt.

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Ob man sich solcher Themen wie die dringend nötige Begrenzung des Lobbyismus – und die international oder wenigstens europäisch gedacht -, die Perspektiventwicklung jenseits der Wachstumslüge annimmt. Es gibt so viel mehr, was da wichtig ist. In der aktuellen Lage rund um Corona werfen sich meines Erachtens mehr Fragen nach Transparenz auf als es die Fakten rechtfertigen.

An einer radikalen Erneuerung der SPD führt kein Weg vorbei – und das ist auch der Punkt, wo mich die Frage nach Ost und West aufhört zu interessieren. Mich interessiert eher, wann die Große Koalition Geschichte wird.

BERLINER STIMME: Kommen wir zu einer kontrovers diskutierten Frage, nämlich, ob sich die SPD für die Aufnahme ehemaliger SED-Mitglieder hätte öffnen müssen? Immerhin: SPD-Vordenker Egon Bahr war dafür.

Anne-Kathrin Pauk: Wenn man eine Revolution gemacht hat, die Demokratie erkämpft, dann ist ein Vordenker unter Umständen in der Wahrnehmung der Revolutionäre einer, der einem buchstäblich etwas vordenken will (lacht). Man hatte Fremdbestimmung gerade hinter sich gebracht, das heißt, man will endlich mal selber formulieren.

Oskar Lafontaine als Vordenker kam bei so fremdelndem Desinteresse an der Situation im Osten nicht gut voran. Wir als Berliner SPD hatten ja auch unterschiedliche Ansichten, es wurde, wie du sagst, über dieses Thema kontrovers diskutiert. Doch wenn die Leute, die emotional von Verfolgung in der DDR besonders betroffen waren, in einer Versammlung aufstanden und sagten das sind alles Verbrecher, dann hat natürlich der Mensch Mitgefühl und man traut sich kaum etwas dagegen zu sagen. Taktische und strategische Argumente waren nicht so sehr gefragt.

Eine Sache muss ich in diesem Kontext noch erwähnen. Das beobachte ich mit Sorge, nämlich so eine Art Sippenhaft-Gedanke. Das ist immer noch nicht raus ist aus den Menschen. Das ist jetzt so ein hartes Wort dafür, doch wer hätte uns als SPD-Basisgruppen, beispielsweise in Marzahn oder Köpenick, denn das Urteilsvermögen absprechen wollen, wenn wir darüber entschieden hätten, dass jemand zwar aus der SED, aber eigentlich in Ordnung ist.

Dieser basisdemokratische Gedanke wurde mit flammenden Appellen von einzelnen Leuten so platt gemacht. Das war keine gute Idee, und heute wird es immer noch wie eine ideologische Keule geschwungen. Es gibt eben in Ost-Berlin unter den ehemaligen SED-Mitgliedern auch solche, die einfach Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten sind.

Diese hätten damals sicher gern die Chance bekommen, Mitglied in der SPD zu werden. Genau das haben wir nicht gemacht. Das ist auch ein Grund, weshalb wir so wenige geblieben sind. Es gibt Gründe, warum das so gelaufen ist. Aber ein Votum dagegen wird bis heute nicht ruhig erwogen, so als ob man nachträglich daran sterben könnte.

Kann man ja auch, aber eben an der Entscheidung, nicht am Abbruch des Diskurses. Eine differenzierte Sichtweise, untermauert mit Argumenten wird nicht verfolgt. Ich finde immer noch, die Hoheit liegt beim Ortsverein. Das sagt unser Statut. Diese Hoheit den Menschen zu nehmen ist in meinen Augen Bevormundung. Das finde ich einfach falsch.

Das war ein Fehler. Wenn man den ich gemacht und sich da einfach selbstbewusster geöffnet hätte, stünden wir heute besser da.

BERLINER STIMME: Das war jetzt eine Betrachtung aus dem Inneren der Partei. Gab es denn noch äußere Einflüsse, die zu der Nichtöffnung geführt haben?

Anne-Kathrin Pauk: Man hat sich komplett fremdbestimmten lassen. Natürlich haut die CDU da drauf. Die hatten eine gute Kommunikationsagentur, die hatten gute Strategen in der Beratung. Die Plakate waren übel: SPDPDS so als Buchstabenschlange. Die SPD hätte schon aus ihrer Tradition heraus einfach selbstbewusst sagen können: Das ist eine demokratische Entscheidung.

Wie kann man sich denn als SPD den Vorwurf machen lassen, dass man einzelne SED-Mitglieder aufnehmen möchte, und zwar als eine völlig demokratische Entscheidung, wenn doch die CDU ganze Blockparteien in ihrem Bauch verschluckt hat? Das heißt das, was die uns vorwerfen, was wir nicht getan haben, haben Christdemokratinnen und Christdemokraten in ganz großen Stil gemacht.

Wo waren die Leute, die dazu etwas gesagt haben? Walter Momper hat es erwähnt. Ich habe es gebetsmühlenartig wiederholt, aber man muss auch erst mal eine Journalistin, einen Journalisten finden, der das aufschreibt, versteht und weiß, was eine Blockpartei ist. Die westdeutsche Presse hat da nicht differenziert. Dazu brauchte man mehr kommunikative Energie.

Auch wenn ich heute noch manchmal verschiedene Nachrichtensendungen sehe: Wird mal darüber reflektiert, dass es eine Bauernpartei in der DDR gab und dass die in der West-CDU aufgegangen ist. Überdies ist es nicht nur so, dass die Mitglieder dieser Blockflötenparteien aufgenommen worden sind, sondern das Vermögen dieser Partei gleich mit. Das ist ein für uns ärgerlicher Umstand, aber mithin eine Tatsache und die kommt in der Geschichtsschreibung nicht vor.

BERLINER STIMME: Walter Momper ist ein gutes Stichwort. Er sagte zum 25-jährigen Jubiläum der Vereinigung von SDP und SPD in der Sophienkirche, dass gerade jene Wiedervereinigung von Gleich zu Gleich geschah: War es denn so?

Anne-Kathrin Pauk: Walter war jemand, der ganz offen und unkompliziert sowie auf Augenhöhe mit uns gesprochen hat. Er hatte uns einen hervorragenden und praktisch unschlagbaren Kontakt mit Dieter Schröder, damaliger Chef der Senatskanzlei, hergestellt und uns ganz in Diskussionszirkel eingebunden.

Das hat aber eine Weile gedauert. Es gab einen Gesprächszirkel im Rathaus Schöneberg, wo die Ost-Opposition eingeladen wurde, aber nicht die SDP. Da waren alle möglichen Leute – nur nicht die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten der DDR. Diese Herangehensweise findet sich heute in einem kardinalen Fehler in der Selbstdarstellung der SPD fortgesetzt: Die Einzigen innerhalb der Opposition in der DDR, die die entscheidende Machtfrage gestellt haben und den Schritt gegangen sind, eine Partei zu gründen, war die SDP.

Die SDP-Gründer haben der SED ihre Existenzberechtigung abgesprochen. Sie haben die Hand aus dem Bonbon gezogen (Das wegen seiner ovalen Form Bonbon genannte Parteiabzeichen der SED bestand aus einem stilisierten Handschlag von, so war es gemeint, Kommunistinnen und Kommunisten und Sozialdemokratinnen und Sozialdemokrat, Anm. d. Red.) – um es mal frei nach Schnauze zu sagen.

Die Rückabwicklung der Zwangsvereinigung quasi. Diese Hand wurde herausgerissen durch die SDP. Dieses Stellen der Machtfrage unterschied uns vom Rest der DDR-Opposition. Der Demokratische Aufbruch oder das Neue Forum und die anderen wollten explizit alle keine Partei sein. Die einzigen und konsequentesten unter den Dissidentinnen und Dissidenten waren damals die SDP-Gründer, allen voran Markus Meckel und Martin Gutzeit.

Klaus Wowereit hat mal eine Rede zur Feier der Friedlichen Revolution 1989 gehalten. Er hat andere verdiente Oppositionelle gewürdigt, aber nie kommen die Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten der SDP zu solchen Gelegenheiten an der ihnen gebührenden Stelle vor. Warum? Das ist ein Fehler. Und das hat man damals eben auch schon gespürt.

Zu dem erwähnten Gesprächskreis von Walter Momper mit Vertretern der DDR-Opposition habe ich mich selber eingeladen, weil die SDP natürlich auch dazugehörte. Das hängt jedoch nicht damit zusammen, dass man sich nicht verständigen wollte, sondern mit ein bisschen Irritation. Wer sind diese Leute von der SDP?

Sind das jetzt wirklich Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten? Das haben sich viele in West-Berlin gefragt, weil manches an der der SDP befremdlich angemutet haben muss. Das fing schon bei ganz oberflächlichen Dingen an, so zum Beispiel wie einer angezogen ist. Es gab damals einen Witz über Thomas Krüger.

Er sah immer so aus, als ob er sich nach dem Sturm auf das Winterpalais 1917 nicht mehr umgezogen hat (lacht). Walter Momper hat auch lange darüber nachgedacht, weiterhin mit der SED zu reden. Das war so eine zweigeteilte Sache. Er hat uns natürlich immer gute Tipps gegeben, war außerordentlich hilfsbereit, persönliche Spenden eingeschlossen.

Wir hatten jedoch auch ein paar eigene Ideen. Ob das alles tatsächlich auf Augenhöhe war, kann ich bis heute nicht sagen. Es war wie es war. Aufregend in jedem Fall.

BERLINER STIMME: Gibt es einen Moment, woran du das festmachst?

Anne-Kathrin Pauk: Bei der erwähnten Gedenkveranstaltung in der Sophienkirche hatte ich die Idee, nämlich, dass wir die Bühne so zusammenstellen, dass drei Wessis mit drei Ossis von damals kennen, diskutieren. Eigentlich war ich gebeten worden, eine Rede zu halten. Ich habe es lieber so aufgelöst, dass wir alle zusammen kleine Dialoge führen.

Knut Herbst und Christian Hossbach moderierten die Veranstaltung. Das hat dann aber doch nicht funktioniert. Knut Herbst fragte nämlich Walter Momper, was er denn damals dachte, als er uns traf. Walter Momper antwortete, dass er die gut geschulten SED-Funktionäre einerseits und dann eben andererseits uns traf – mit bedeutungsvoller Pause.

Das war nicht böse gemeint, doch er sagte so etwas wie „Ihr wilder Haufen“. Ich frage mich bis heute, wer denn diese rhetorisch gut geschulten SED-Mitglieder gewesen sein sollen – Egon Krenz als brillanter Redner? Nicht böse gemeint, dass wir eben doch als Chaotenhaufen wahrgenommen worden sind. Das ist nicht wirklich eine gute Bilanz und auch sachlich höchst unbegründet – wenn man sich ansieht, was wir riskiert, was wir verloren, aber auch gewonnen haben.

Walter hatte zu dieser Zeit natürlich eine herausragende Rolle und hat Wichtigstes für die Stadt national wie international bravourös geleistet. Solche Herausforderungen erleben nur wenige Menschen in ihrer politischen Karriere. Doch unsere Herausforderungen waren für jeden Einzelnen mit großem Risiko verbunden, teilweise verloren manche ihre Arbeit.

Ich habe meinen Job verloren. Wir waren ja nicht sicher, ob die Stasi eigentlich immer noch an der Macht, aber gewiss, dass sie noch am Werke ist. Wir haben uns mit dieser Revolution 1989 den Boden der Gewissheiten unter den Füßen weggezogen. Das war eine Situation, die es nicht angemessen erscheinen lässt, uns als einen unorganisierten Haufen zu sehen.

Das waren wir zwar zwangsläufig, aber das machte uns nicht aus. Wir haben sehr viel Mut gehabt und wir haben auch sehr viel geleistet. Genau das sollte in der Bilanz, wenn man über und miteinander spricht, einfach vorkommen.

BERLINER STIMME: Was meinst du: Was blieb von der SDP nach der Vereinigung zur Gesamtberliner SPD übrig?

Anne-Kathrin Pauk: Da komme ich auf die Gedenkkultur der Berliner SPD zu sprechen. Wenn ich mir die Geschichte der SPD Berlin auf der derzeitigen Internetseite durchlese, steht da relativ wenig über die SDP, deren Gründung und Wirken in der Zeit der friedlichen Revolution 1989. Für das, was wir als Ostdeutsche gemacht haben, ist das nicht viel.

Es scheint mir keine Herzensangelegenheit zu sein, dessen zu gedenken. Natürlich haben wir als die Ossis selbst in dieser Sache nicht genug zustande gebracht. Wir sollten uns von selbst einmal darum kümmern müssen und mehr Anregung schaffen. Eine andere Tatsache, die sich auch in der SPD auswirkt, ist die Unterrepräsentanz von Ostdeutschen.

Rein statistisch machen Ostdeutsche 17 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Doch in führenden Positionen in Bereichen wie Wirtschaft, Kultur, Politik, Medien sind sie mit nur 1,7 Prozent in Führungspositionen krass unterrepräsentiert. Diese Unterrepräsentanz ist leider auch in SPD der sichtbar.

Autor:in

Sebastian Thomas

Redakteur der BERLINER STIMME und des vorwärtsBERLIN