Gordon Lemm vor Rathaus in Marzahn-HellersdorfSPD Berlin/Sebastian Thomas

Bezirksbürgermeister von Marzahn-Hellersdorf: „Ins oberste Regal greifen“

Mit der Wahl im September wuchs die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) in Marzahn-Hellersdorf von vormals fünf auf sieben Parteien an: FDP und Tierschutzpartei zogen in Fraktionsstärke ein. Danach entstand ein berlinweit einzigartiges Bündnis: eine Zählgemeinschaft aus SPD, Linken, Grünen, Freidemokrat:innen und Tierschützer:innen. Als neuen Bezirksbürgermeister wählte die BVV Gordon Lemm.

Zum Amtsantritt bekam Gordon Lemm von seiner Sekretärin ein besonderes Geschenk: Einen roten Knopf mit der Aufschrift „Blah, Blah“. Immer wenn dieser betätigt wird, ertönt eine Männerstimme und gibt die Aufschrift des Knopfes wieder. Mit einem Augenzwinkern meinte sie, er solle ihn benutzen, falls eine BVV mal wieder länger dauert.

Er würde den Knopf natürlich nie drücken – jedoch: Aus Spaß habe er den neu gewählten Bezirksverordneten die Nutzung schon mal in einer Sitzung angedroht, sagt Gordon Lemm und lacht. Der vorwärtsBERLIN hat den frisch gebackenen Bezirksbürgermeister zum Gespräch getroffen.

vorwärtsBERLIN: Lieber Gordon, Dreierbündnisse sind auf Landes- und auch auf Bundesebene längst der Normalfall, aber ein Fünferbündnis ist bis jetzt einzigartig. Gibt es einen Moment, an dem klar wurde, dass so eine Konstellation nach der Wahl möglich ist?

Gordon Lemm: Tatsächlich haben uns diesen Moment die Wählerinnen und Wähler mit dem Wahlergebnis gegeben. Es war klar, zumindest was die Sitze angeht, dass es nach der Wahl zwei gleich starke Parteien geben wird, und zwar CDU und SPD. Die CDU war uns sogar ein Stück voraus, nämlich 0,5 Prozentpunkte. Das bedeutet dennoch die gleiche Anzahl an Sitzen und damit zwei Parteien, die grundsätzlich auch eine realistische Chance darauf haben konnten, den Bürgermeister oder die Bürgermeisterin zu stellen.

Und auch eine andere Sache haben uns die Wähler:innen mitgegeben: Es gibt jetzt sieben Fraktionen im Parlament. Das ist schon historisch, denn mit der Tierschutzpartei und der FDP sind gleich zwei Parteien vertreten, die vorher noch nie in der BVV waren und gleich in Fraktionsstärke eingezogen sind. Um eine Mehrheit zu finden, führten wir mit allen, außer der AfD, Gespräche.

Wie fanden die Partner:innen dieses doch sehr farbenfrohen Bündnisses zueinander?

Mit Linken und Grünen haben wir in der vergangenen Wahlperiode gut zusammengearbeitet, aber kommen insgesamt nur auf 27 Stimmen. Für eine Mehrheit benötigt man aber 28. Linke und Grüne konnten sich nach unseren Gesprächen vorstellen, dass sie einen SPD-Bürgermeister unterstützen. Dann folgten Beratungen mit FDP und Tierschutzpartei.

Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich gerne ein Fünferbündnis bilden möchte; denn rein rechnerisch hätten auch vier Parteien genügt. Doch wir wollten auch ein Zeichen für Erneuerung setzen und haben uns für ein Bündnis aus fünf Parteien entschieden. Auch um zu zeigen, dass man, zumindest auf lokaler Ebene, so ein Bündnis bilden kann. Noch dazu mit zwei Parteien, die inhaltlich weit auseinanderliegen.

Blah Blah-Knopf im Rathaus von Marzahn-HellersdorfSPD Berlin/Sebastian Thomas
Wenn Sitzungen mal wieder länger dauern: Zum Amtsantritt bekam Gordon Lemm von seiner Sekretärin einen Spaßknopf mit der Aufschrift „Blah Blah“ geschenkt.

SPD, Linke und Grüne treffen über die Zählgemeinschaft hinaus noch eine inhaltliche Vereinbarung: Warum wird das nötig?

Von Anfang an war klar, dass wir eine Zählgemeinschaft bilden, in der alle fünf Parteien vertreten sind und darüber hinaus noch eine Vereinbarung mit Linken und Grünen. FDP und Tierschutzpartei sind neu im Parlament und müssen sich erst noch finden. Für beide Parteien wäre es auch nicht so leicht, ein inhaltliches Bündnis einzugehen. In vielen Debatten haben die beiden Parteien noch keine Position, deswegen ist es auch nachvollziehbar, dass sie sich nicht binden möchten wie in einer Koalition, einfach um mehr Freiheiten zu haben.

Deshalb haben wir noch mal getrennt verhandelt zwischen einer Zählgemeinschaft und einem Bündnis, in dem es darum geht, gemeinsame Ziele festzulegen, inhaltliche Themen genau zu benennen und auch Lösungen zu formulieren. So verpflichten sich die Partner in der Zählgemeinschaft nicht fünf Jahre lang, immer gemeinsam zu stimmen oder Projekte schon fest miteinander zu verabreden, die man unbedingt umsetzen möchte.

Wie drückt sich diese Zweiteilung in konkreten Themen aus?

In der Zählgemeinschaft geht es um globale Zielstellungen, das heißt zum Beispiel, Dinge rund um Demokratie und Toleranz. Wir setzen uns beispielsweise gegen Trans- und Homophobie, Rechtsradikalismus und Demokratiefeindlichkeit ein. Das trägt unter anderem dazu bei wie der Bezirk nach außen hin betrachtet wird. Oder die Frage, was für uns einen lebenswerten Bezirk ausmacht.

Darunter fallen beispielsweise die Themen Natur, Tiere und Umweltschutz, aber auch Digitalisierung. Gerade letzteres ist der Part der FDP. Davon unabhängig gibt es den 19-seitigen Koalitionsvertrag von Rot-Rot-Grün. Da stehen konkrete Projekte drin, wie zum Beispiel saubere Schulen oder die Umsetzung eines Freibads.

Hast du eigentlich vor der Wahl damit gerechnet, dass die SPD in Marzahn-Hellersdorf so gut abschneiden würde?

Wenn ich ehrlich bin, nicht. Vor der Wahl standen wir in Umfragen im Bezirk bei elf Prozent. Vor einem Jahr war unser absoluter Tiefpunkt. Da sagte die Prognose neun Prozent voraus. Mit Beginn des Wahlkampfs stellten wir uns wichtige Fragen, also werden wir überhaupt im Bezirksamt vertreten sein oder wie viele Verordnete werden wir noch in die BVV entsenden? Bei der vergangenen Wahl hatten wir 18 Prozent. Das war im Angesicht der damaligen Situation ein Traum. Dann haben wir mit einem Wahlergebnis von 20,5 Prozent sogar zugelegt und die Chance bekommen, den Bürgermeister zu stellen.

Jetzt bist du Bezirksbürgermeister. Ist das eine Sache, auf die du hingearbeitet hast?

Eher nicht, ich mochte meine Ämter und auch die Verantwortung, die ich als Bezirksstadtrat hatte. Gerade die Themen Familie und Kinder liegen mir sehr am Herzen. Der Posten des Bezirksbürgermeisters war jedoch nicht zuletzt auch aufgrund der Umfrageergebnisse keine realistische Option. Natürlich haben wir im Wahlkampf den Anspruch erhoben, das Bezirksoberhaupt zu stellen. Das muss man auch machen. Dennoch war ich mir nicht sicher. Ich kann mich noch gut an die Debatte erinnern, als wir bei den besagten elf Prozent standen.

Da war auch Iris Spranger dabei. Das Gespräch ging so ähnlich wie ‚Bürgermeisterkandidat sei doch heikel, wir schreiben Spitzenkandidat‘ oder so ähnlich. Das sage doch das Gleiche aus. Sven Kohlmeier, der damals noch Abgeordneter war, meinte schließlich, dass ich auch selbst den Anspruch haben muss. Ob es dann klappe oder nicht, sei egal. Doch wenn ich nicht ins oberste Regal greifen will, komme ich nicht mal in die Mitte. Im Nachhinein muss man sagen, er hatte Recht.

Gordon Lemm steht in seinem Büro im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf.SPD Berlin/Sebastian Thomas
Auch während des Interviews steht sein Telefon nicht still: Bezirksbürgermeister Gordon Lemm im Gespräch in seinem Büro im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf.

Klimawandel, Verkehr- und Mobiltätswende: Sind das Themen, die dich als Bezirksbürgermeister die nächsten fünf Jahre begleiten werden?

Nicht nur, als Bürgermeister muss man einen globalen Blick haben. Die Kompetenzen eines Bürgermeisters, einer Bürgermeisterin unterscheiden sich in erster Linie kaum von denen eines Stadtrats, einer Stadträtin. Darüber hinaus hat ein Bürgermeister noch eine gewisse Verantwortung für Ressorts wie Personal und Finanzen. Hingegen müssen wir als Bezirk Themen wie den Klimawandel oder die Verkehrs- und Mobilitätswende einfordern und auch ansprechen. Sie begleiten dementsprechend auch mich in meiner Amtszeit, obwohl sie nicht zu meinen Kernaufgaben gehören.

Dennoch müssen sie sowohl im Rat der Bürgermeister:innen als auch medial und in der eigenen Öffentlichkeitsarbeit für den Bezirk angesprochen und eingefordert werden. Deshalb werden wir in der Verwaltung einen Klimaschutz- und Energiebeauftragten haben. Als Bezirksamt haben wir natürlich auch eine Vorbildfunktion, was Energie sparen betrifft, so unter anderem mit Solarpanels, mit Begrünung. Ein anderes Thema ist aktuell die finanzielle Ausstattung. Als Bezirke sind wir gehalten, für den nächsten Haushaltsplan deutliche Einsparungen vorzunehmen oder zumindest diese in Angriff zu nehmen.

Welche Entscheidungen stehen für dich unmittelbar an?

Mit dem Thema Personal muss ich mich dringend in unserem Bezirk auseinandersetzen. Wir sind der Bezirk, der die älteste Mitarbeiter:innenstruktur aufweist. Auf der einen Seite gehen bis 2030 50 Prozent unserer Kolleginnen und Kollegen in Rente, also quasi übermorgen. Wir haben 1.900 Mitarbeitende, 300 weitere Stellen sind unbesetzt. Eine Stelle, die nicht besetzt ist, kann keine Leistung bringen. Das heißt, wir können weniger bauen, weniger Straßen reparieren, weniger für Familien da sein, die Schwierigkeiten haben. Wir haben nicht genug Ärzt:innen, um unsere Einschuluntersuchungen gut und rechtzeitig ausführen zu können.

Die Bürgerämter sind nicht komplett besetzt, müssten es aber sein. Das ist die Situation, die wir gegenwärtig schon haben. Wenn absehbar ist, dass wir in acht Jahren die Hälfte unseres Personals austauschen müssen, ist das eine unglaubliche Herausforderung. Wenn eine Stelle frei wird, brauchen wir ein Jahr, bis ein Mensch da ist und dann läuft der Bewerbungs- und Einstellungsprozess schon gut. Doch bis er oder sie da ist, brauchen wir viel zu lange und sind wir im Vergleich zur Wirtschaft viel zu langsam. Das sehe ich als einen Punkt, den wir ganz schnell angehen müssen.

Wie möchtest du diesen Prozess beschleunigen?

Eine zielgruppengerechte Ansprache wäre schon mal ein Anfang. Die Suche nach einem qualifizierten Mitarbeiter, einer qualifizierten Mitarbeiterin im Grünflächenamt für Kartierung mag zwar sachgerecht klingen. Doch wie wäre es stattdessen mit der Formulierung, dass ein familienfreundlicher Arbeitgeber für eine sinnstiftende und gesellschaftlich relevante Tätigkeit eine Bewerberin, einen Bewerber sucht?

Ebenso muss die Bewerbung genau dort erscheinen, wo Uniabsolvent:innen unterwegs sind und das ist nicht das Amtsblatt oder berlin.de, sondern Job- und Karriereportale. Da schlummert Potenzial. Diesen Wettbewerb mit der freien Wirtschaft müssen wir aufnehmen. Genauso müssen wir unbedingt bürokratische Prozesse abkürzen. So ist der Zeitraum von ‚Stelle wird frei‘ bis ‚Wir können in die Ausschreibung gehen‘, viel zu lang, und da legen wir uns selbst durch bürokratische Hürden Steine in den Weg. Das will ich ändern.

Lieber Gordon, wir danken dir für das Gespräch.

Carola Brückner ist nach 99 Männern die erste Frau an der Spitze Spandaus. Was sie vorhat, welche Themen sie beschäftigen und was Frauen in der Politik anders machen, erzählt sie im Gespräch mit dem vorwärtsBERLIN.

Autor:in

Sebastian Thomas

Redakteur der BERLINER STIMME und des vorwärtsBERLIN