Mehr als 400 Kirchen prägen bis heute gut sichtbar das Bild Berlins. Das weltliche Berlin fällt weniger auf, aber es bestimmt den Alltag der Stadt inzwischen viel stärker: Mehr als zwei Drittel der Berlinerinnen und Berliner gehören keiner Religionsgemeinschaft an. In seinem Buch „Das säkulare Berlin“ begibt sich Manfred Isemeyer, früherer Vorstandsvorsitzender des Humanistischen Verbandes Berlin-Brandenburg, auf die Spuren „von Dissidenten, Freidenkern und Humanisten“, er skizziert die Geschichte ihrer Verbände und führt an Orte ihres Wirkens.
Das Zeitalter der Aufklärung hinterließ in Berlin seine Spuren, christliche Dogmen verloren an Gewicht. Aber es dauerte noch bis zum 19. Jahrhundert, ehe sich Freidenker, Humanisten, Atheisten und Konfessionslose in etlichen Vereinen und Verbänden organisierten. Viele gehörten der Sozialdemokratie an. 1880 wies die Statistik der 1,3 Millionen-Einwohnerstadt erstmals 246 Personen ohne Religionsbekenntnis aus, 1885 fanden sich 3419 Dissidenten, 303 „Confessionslose“, drei „Heiden“ und 299 Berlinerinnen und Berliner „unbestimmter Religion“, zu denen auch Atheisten und Freidenker zählten.
Isemeyer schildert in seinem historischen Abriss, wie sich die säkulare Bewegung mit ihren unterschiedlichen Strängen in Berlin entwickelte, wie kirchliche Reformbewegungen, Freireligiöse, Anhänger einer ethischen Kultur und eines schulischen Ethikunterrichts für ihre Ideen warben. Berlin wandelte sich in jener Zeit zur Industriestadt, Armut und Not prägten die Arbeiterviertel. Soziale Wirklichkeit und christliche Moral passten immer weniger zusammen.
So wurde die Bekehrung der „gottlosen“ Arbeiterinnen und Arbeiter versucht. Isemeyer erinnert an den „Moabiter Klostersturm“: Tausende stürmten 1869 ein im Arbeiterviertel Moabit neugegründetes Dominikanerkloster. Dissidenten und das aufgeklärte Berliner Bürgertum, so Isemeyer, sahen im Bau eine Provokation. Die Folge: Zwei Menschen starben durch Polizeisäbel, es gab 30 Verletzte. Lange Auseinandersetzungen gab es um die in Preußen verbotene Feuerbestattung. 1905 gründeten zwölf Sozialdemokraten den Sparverein für Freidenker zur Ausführung der Feuerbestattung.
Erst sechs Jahre später konnte er gegen den Widerstand der Kirchen ein erstes Krematorium in Berlin durchsetzen. Aus diesem und weiteren Vereinen entstand in den zwanziger Jahren der Verband für Freidenkertum und Feuerbestattung. Das Zentralorgan „Der Freidenker“ hatte eine Auflage von mehr als 430.000 Exemplaren. Die Berliner SPD rief 1919 bei einer eigenen Jugendweihefeier im Saal des Lehrervereinsheims am Alexanderplatz die 230 Jungen und Mädchen auf, für eine bessere Zukunft einzutreten.
Ein Jahr später wurde die erste weltliche Schule Deutschlands in Adlershof gegründet, bis 1932 kamen mehr als fünfzig weitere dazu. Schon 1932 wurden der KPD nahestehende Verbände verboten. Der sozialdemokratische Vorsitzende des Deutschen Freidenker-Verbandes Max Sievers behielt mit seiner Warnung recht, dass dies nur der Anfang sei. Im März 1933 stürmte die SA das Freidenkerhaus in der Kreuzberger Gneisenaustraße, der Freidenkerverband wurde verboten, seine Mitglieder verfolgt.
Sievers, der zunächst fliehen konnte, wurde 1943 in Belgien verhaftet und zum Tode verurteilt. Nach dem Krieg sollte die Freidenkerbewegung auf dem, so Isemeyer, „breiten Konsens von Sozialdemokraten, Kommunisten, Liberalen und Parteilosen“ neu entstehen. Die Alliierten verhinderten die Gründung zunächst. In der sowjetischen Zone und der DDR erhielten die Freidenker auch später keine Zulassung, in den Westzonen gründeten sie sich 1949. Als die Jugendweihe in der DDR als Bekenntnis zum Sozialismus staatlich verordnet wurde, verlor sie im Westen an Zuspruch.
In den achtziger Jahren entwickelte sich der Freidenkerverband unter dem Einfluss von Friedens-, Ökologie- und Frauenbewegung weiter, wurde zum Humanistischen Verband, der heute ein breites Lebenskundeangebot an Schulen vermittelt, über 60 Einrichtungen und Projekte betreibt und auch Herausgeber des Buches ist. Schwerpunkte von Isemeyers Blick auf das säkulare Berlin sind die 124 Biographien und 20 Tourvorschläge, die an Versammlungsorte, Wohn- und Wirkungsstätten sowie Grabstätten von Künstlerinnen und Künstlern, Philosoph*innen oder Kirchenkritiker*innen führen.
Dabei entsteht ein beeindruckendes Panorama von Persönlichkeiten: Albert Einstein, der Maler Hans Baluschek, Schriftstellerin Anna Seghers, der Gründer der Freien Volksbühne Bruno Wille, der Regisseur Erwin Piscator, der Maler Georg Grosz, der Pädagoge Friedrich Adolph Wilhelm Diesterweg, die Philosophen Feuerbach und Fichte, der FDP-Politiker Wolfgang Lüder – sie alle haben zu unterschiedlichen Zeiten im Sinne der Freidenker und Humanisten gewirkt.
Dazu gehören etliche sozialdemokratische Lebensläufe, von August Bebel über Lily Braun, Clara Bohm-Schuch, Agnes Wabnitz, Luise Zietz, Anna Nemitz bis zu Kurt Löwenstein und Karl und Wilhelm Liebknecht. Wie vielfältig die säkulare Bewegung mit der Stadt verflochten war, zeigen die zwanzig detaillierten und reich illustrierten Touren, die nicht nur ins alte Stadtzentrum führen, sondern auch an den Stadtrand. Weit über 200 Orte gilt es zu entdecken. Wer lange Wege sparen will, findet auch Verbindungen mit öffentlichen Verkehrsmitteln.