KYIV, UKRAINE - Mar. 29, 2022: War in Ukraine. Shopping center that was damaged by shelling on 21 March by a Russian attack in Kyiv, where according to emergency service, at least six people diedAdobe Stock/misu

Krieg in der Ukraine: Die SPD und die Zeitenwende

Angesichts des furchtbaren, verbrecherischen Überfalls von Putin auf die Ukraine hat Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag eine Zeitenwende festgestellt. Doch was bedeutet das eigentlich? Ein Kommentar von Michael Müller, Mitglied im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags. Davor war er Regierender Bürgermeister von Berlin.

„Zeitenwende“ – jeder versteht darunter etwas Anderes. Aber klar ist: Die Nachwendezeit ist nach über dreißig Jahren beendet. Unklar bleibt, was stattdessen kommt. In dieser Zeit der Ungewissheit suchen viele Halt in den klar einzusortierenden politischen Zusammenhängen des Gegeneinanders zweier Blöcke. Die Erinnerung an den Kalten Krieg scheint dabei zu helfen. Die Doppelbeschluss-Logik von Abschreckung und Verhandlungen aus den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts erlebt bei vielen eine Renaissance.

Sie dient als Leitplanke für eine Zeit, in der in Europa wieder Krieg herrscht. Wir alle ahnen, dass das nicht nur zu kurz gedacht ist, sondern auch über dreißig Jahre weltpolitische Entwicklung ignoriert. Denn ungeachtet des brutalen Angriffs Putins auf ein souveränes europäisches Land, hat die Zeitenwende nach der friedlichen Revolution von 1989 unter anderem in der UN dazu geführt, dass ein großer Teil der Weltgemeinschaft die russische Aggression klar verurteilt hat.

Selbst China vermochte es nicht, trotz aller demonstrierter Nähe zu Russland, sich an dessen Seite zu stellen und enthielt sich. Allerdings zeigt der Blick auf die 38 Länder, die sich ebenfalls entweder enthielten oder dagegen stimmten, darunter Indien und Südafrika, dass wir nach dem Ende der bipolaren Weltordnung und einer kurzen Zeit der US-amerikanischen Dominanz heute mit einer Vielzahl an relevanten Akteuren, mit eigenen, oft unterschiedlichen, Interessen konfrontiert sind.

In dieser multipolaren Weltordnung geht es, neben der möglichst schnellen Wiederherstellung des Friedens in Europa und der Bewahrung der Souveränität der Ukraine, um drei zentrale Herausforderungen.

  1. Wir dürfen wir uns auf keinen Fall auf die Logik des Kalten Krieges zurückziehen. Es muss jetzt vielmehr darum gehen, die Zeitenwende als etwas Neues zu begreifen. Dafür muss es auch eine neue Strategie, jenseits eines 100 Milliarden-Paketes für die Bundeswehr, geben. In dieser Strategie stellt sich nicht die Frage Westen gegen Osten. Es kann und muss dabei um die Werte der Demokratie und der offenen Gesellschaften gehen.
  2. Wir leben schon seit langem in einer weltweit beängstigenden Zeit der Disruption. Auch hier kann man wieder an einen Begriff der 80er Jahre erinnern: Waldsterben. Der Klimawandel mit seinen furchtbaren weltweiten Folgen ist keine Entwicklung der letzten Jahre. Seit Jahrzehnten wissen wir, dass wir umsteuern müssen. Aber erst jetzt ist dieses Wissen, auch dank der Fridays for Future Bewegung, dermaßen breit verankert, dass die Weltgemeinschaft endlich daraus Konsequenzen ziehen will. Damit das Umsteuern weg vom Zeitalter fossiler Energieträger gelingt, braucht es ein breites Bündnis. Dabei muss es auch um einen Kraftakt des globalen Nordens gehen, den globalen Süden in die Situation zu versetzen, einen menschenwürdigen Wohlstand zu erreichen und trotzdem aus fossilen Energieträgern auszusteigen. Wenn die zu befürchtende neue Eiszeit des waffenstarrenden Gegeneinanders die Anstrengungen zu einer weltweiten sozial-ökologischen Klimawende zurückdrängt, dann hat die Welt gleich doppelt verloren.
  3. Frieden, Wohlstand, soziale Gerechtigkeit und die Klimawende können nur gelingen, wenn sich Demokratie und damit Freiheit und Menschenrechte weltweit als das Modell durchsetzen, das zu einer gemeinsamen Veränderung hin zu einer Welt führt, die wir unseren Kindern und Enkeln überlassen wollen. Demokratie darf dabei aber kein „imperialistisches“ Instrument der Weltverbesserung sein. Demokratie muss seine Überlegenheit beweisen. Dazu gehört der jetzt durch den Ukrainekrieg erlebte Schulterschluss demokratischer Länder. Es braucht aber auch eine kluge Politik, die einerseits bei der Unterstützung von Demokratisierung die lokalen Gegebenheiten und Unterschiede berücksichtigt und andererseits an den Schwächen unseres eigenen Systems ansetzt, um die Demokratie als Modell resilient für die Zeitenwende zu machen.

Die derzeitige weltweite Krise hat die Grenzen des Wandels durch Handel ganz klar aufgezeigt und beweist, was schon die Corona-Krise gezeigt hat,  auch das Prinzip der wirtschaftsliberalen Globalisierung hat Beschränkungen. Demokratien müssen zukünftig in der Lage sein, unabhängiger von Oligarchen, Diktaturen und Scheindemokratien zu wirtschaften und sich CO₂-neutral mit der nötigen Energie dafür zu versorgen.

Das wird nicht ohne Folgen für jede*n Einzelne*n möglich sein.

Die große Aufgabe der Demokratien und damit auch der SPD ist es, die Disruption dieser Zeitenwende sozial, ökologisch, demokratisch und vor allem friedlich ohne Verteilungskämpfe zu gestalten. Dafür stehen wir erst am Anfang. Wir müssen jetzt diesen weltweiten Diskurs aufnehmen und gerade in Europa wird Deutschland eine zentrale Rolle spielen müssen.

Unsere Aufgabe ist es, eine Strategie zu entwerfen, die es uns ermöglicht, auf die Machtverschiebungen im internationalen System zu reagieren und für unsere Interessen selbstbewusst einzustehen. Sich für Frieden, Demokratie, Menschenrechte und die Sicherung unser aller Umwelt einzusetzen, ist dabei kein Selbstzweck, sondern der Wertekompass, der unserer Politik die Richtung vorgeben muss.

Diese Strategie kann nur und muss von einer weltweiten Allianz der Demokratien ausgehen, die sich für multilaterale Lösungen einsetzen und wo immer möglich auf Dialog setzen.

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Autor:in

Michael Müller

Bundestags­abgeordneter

Michael Müller