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Rassismus: Wem gedenken? Für eine sozialdemokratische Erinnerungskultur

Zehntausende Menschen gehen weltweit seit Wochen gegen Rassismus auf die Straße und fordern ihre Rechte ein: „Black Lives Matter“ – auch in Berlin. In der Hauptstadt erinnern zudem Namen von Plätzen und Straßen an Deutschlands koloniale Vergangenheit. Eine neue Erinnerungskultur ist notwendig.

Australien, Indien, England, USA, Belgien. Täglich fallen neue Statuen, die symbolisch für einen sich durch die Jahrhunderte ziehenden Rassismus stehen, den wir bis heute nicht überwunden haben. Uns wird vor Augen gehalten: wir alle wurden rassistisch sozialisiert. Wir leben in einer Welt, die Weiße privilegiert und Schwarze Menschen diskriminiert.

Denn wollen wir herausfinden, ob „Black Lives Matter“ – ob Schwarze Menschen in Berlin zählen, dann müssen wir Berlinerinnen und Berliner nur vor unsere eigene Haustür treten. Auch der öffentliche Raum, die Straßen und Plätze in Berlin und darüber hinaus, ist Beispiel für bestehenden Rassismus und fehlende kritische Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus.

Berliner Wedding ist Deutschlands größtes Kolonial-Straßen-Ensemble

Vor 100 Jahren, am 27. Juni 1919 forderte Martin Dibobe mit 17 weiteren Afrodeutschen die Gleichberechtigung von Afrikanerinnen und Afrikanern ein, dies sollte als Dibobe-Petition in die Geschichte Deutschlands gehen. Als erster Zugführer afrikanischer Herkunft der Berliner Hochbahn war er eine lokale Berühmtheit, der offen mit der Sozialdemokratie und Arbeiterbewegung sympathisierte.

Doch wer kennt Martin Dibobe und seine Petition? Wem gedenken wir durch Straßennamen und Erwähnungen in Geschichtsbüchern heutzutage eigentlich? In Neukölln einem Gouverneur namens Hermann von Wissmann, der in der ehemaligen deutschen Kolonie Deutsch-Ostafrika Massaker anordnete. 20 Straßen tragen bundesweit seinen Namen.

Im Berliner Wedding befindet sich Deutschlands größtes Kolonial-Straßen-Ensemble, das mit mehr als 20 Straßennamen die deutsche Kolonialherrschaft in Afrika Anfang des vergangenen Jahrhunderts glorifizieren sollte und dies bis heute macht. Wir beginnen zu erkennen, dass dies nur die Spitze des Eisberges ist.

Berlins Afrika Konferenz 1884/85 besiegelte brutale Kolonialisierung

Im Treptower Park fanden Völkerschauen von Menschen aus ehemaligen deutschen Kolonien statt. Ein Forschungsinstitut benannt nach Robert Koch: Er führte Menschenversuche an einheimischen Kranken in Afrika durch. Ein Krankenhaus benannt nach Rudolf Virchow: Er übte Vermessungen an Schädeln von Menschen aus damaligen deutschen Kolonien im Namen der sogenannten „Rassenlehre“ aus.

Tausende Schädel von Menschen aus Afrika liegen bis heute in deutschen Archiven – auch in Berlin. Teile des Humboldt Forums beherbergen unrechtmäßig entwendete Kulturgegenstände aus ehemaligen deutschen Kolonien. Zur Erinnerung: Berlins Afrika Konferenz 1884/85 besiegelte die brutale Kolonialisierung eines ganzen Kontinents. Berlin war Planungszentrum des europäischen Kolonialismus.

Deutschland eignete sich ab 1884 Kolonien in Afrika, Ozeanien und Ostasien an und verfügte damit über das viertgrößte koloniale Gebiet weltweit. Im heutigen Namibia begangen die deutschen Kolonialmächte den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts an Herero und Nama. In Ostafrika töteten sie Hunderttausende im Maji Maji Krieg.

Rassistische Denk- und Handlungsmuster prägen auch heute noch das gesellschaftliche Zusammenleben

Wollen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten nach diesen Menschen unsere Straßen und Institutionen benennen? Zählen Schwarze Menschen in Berlin oder anders gefragt: Do black lives matter? Ja, sie zählen. Von Halle bis Bonn, von Flensburg bis München fordern deutschlandweit dutzende Initiativen eine Beendigung der kolonialen Verherrlichung auf Deutschlands Straßen.

Denn rassistische Denk- und Handlungsmuster prägen auch heute noch das gesellschaftliche Zusammenleben und müssen als Folge des Kolonialismus betrachtet werden. Auch wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten müssen vereint für eine neue Erinnerungskultur stehen, die einen Perspektivenwechsel im Umgang mit Deutschlands Kolonialvergangenheit erwirkt.

Um Rassismus klar zu bekämpfen, gehört eine konsequente Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit Deutschlands dazu. Im Wedding sind wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten mit einem Bündnis aus Politik und Zivilgesellschaft – insbesondere dem Bündnis „Decolonize Berlin“ und dem Afrika-Rat Berlin-Brandenburg – diesen Schritt gegangen.

Konzept für eine neue Erinnerungskultur mit der kolonialen Vergangenheit

Anstatt Kolonialverbrecher sollen auf den Straßenschildern in Zukunft Menschen geehrt werden, die sich dem deutschen Unrechtssystem in Afrika entgegengesetzten. Zusammen mit Bremen und Hamburg legt auch unsere Stadt Berlin ein Konzept für eine neue Erinnerungskultur mit der kolonialen Vergangenheit vor.

Die SPD-Bundestagsfraktion verabschiedete 2019 ein Positionspapier zur Aufarbeitung der deutschen Kolonialgeschichte. Damit „Black Lives Matter“ – Schwarze Menschen zählen– müssen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten diese Konzepte in unserem Alltag leben.

Im Anschluss an das Bündnis „Decolonize Berlin“ wollen wir anstatt einer ‚Mohrenstraße‘, die viele Menschen in unserer Gesellschaft diskriminiert, Menschen afrikanischer Herkunft wie Anton Wilhelm Amo sehen, die seit mehr als 300 Jahren Teil der Geschichte Deutschlands sind. Damit wollen wir ihre historischen, wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Leistungen ehren.

Wir müssen reflektieren und Kolonialismus als schweres historisches Unrecht und Teil unserer Geschichte anerkennen.

Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten müssen den Schulterschluss mit afrodeutschen Organisationen suchen, ihre Belange ernst nehmen und eine Plattform bieten. Wir müssen lernen, Menschen mit Diskriminierungserfahrungen zuzuhören und ihnen mit Demut und Respekt zu begegnen. Wir müssen lernen, mit unserer rassistischen Sozialisierung umzugehen und aus einem Vorwurf von Rassismus zu lernen.

Wir müssen reflektieren und Kolonialismus als schweres historisches Unrecht und Teil unserer Geschichte anerkennen. Es ist die Aufgabe einer jeden Sozialdemokratin und eines jeden Sozialdemokraten, diesen Prozess mit sich selbst und unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern zu beginnen.

Und es ist längst überfällig, rassistische Bezeichnungen aus dem öffentlichen Raum zu entfernen! Wer, wenn nicht wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten? Wo, wenn nicht in Berlin? Wann, wenn nicht jetzt?

Autor:in

Akiiki Babyesiza

Hochschulforscherin und stellvertretende Vorsitzende der ASF Berlin-Mitte

Autor:in

Anab Awale

Sozialwissenschaftlerin und stellvertretende Abteilungs- und AG Migration & Vielfalt-Vorsitzende in Berlin-Mitte

Autor:in

Rosilin Bock

Sie ist in der Entwicklungs­zusammenarbeit tätig und koordiniert in der SPD Berlin-Mitte eine Projektgruppe zu Postkolonialismus.

Autor:in

Julia Plehnert

Mathematikerin und Abteilungsvorsitzende in Berlin-Mitte