Brandenburger Tor MauerSBM/Edmund Kasperski

Berliner Stimme 7|2019: „Es war die Stunde der Macher“

Ditmar Staffelt war von 1979 bis 1998 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhaus, von 1989 bis 1994 Vorsitzender der SPD-Fraktion. Neben Walter Momper arbeitete er in den Wochen und Monaten nach dem 9. November 1989 an der Wiedervereinigung der geteilten Stadt Berlin. Teilweise waren die Methoden unorthodox: So unterstützten sie die neugegründete SDP in der DDR nach Kräften – unter anderem mit Büromaterial.

Am 10. November 1989 trat das Abgeordnetenhaus zu einer Sondersitzung zusammen. Die Abgeordneten waren gezeichnet von einer langen Nacht an den Grenzübergängen der Stadt, den Verbrüderungsszenen und dem Freudentaumel rund um den Kurfürstendamm und der unaufhaltsamen Trabi-Flut auf den Straßen West-Berlins. Wir fühlten, dass ein neues Kapitel der Nachkriegsgeschichte begann.

Zwar hatte der Senat am Abend des Mauerfalls erste Vorbereitungen für die am nächsten Morgen erwartete kontrollierte Öffnung der Grenzen geschaffen. Alles, was dann geschah, übertraf jedoch jede Vorstellungskraft. Niemand in der westlichen Hälfte der Stadt wusste genau, was nun zu erwarten war. Würden die Ostberlinerinnen und Ostberliner im Westteil der Stadt verbleiben? Würden sie wieder zurückkehren? Wie werden die Vertreter von Partei und Staat in der DDR auf diese unerhörte Entwicklung reagieren? Hoffnung und Sorge lagen dicht beieinander. 

Die enorme Kraft der friedlichen Massenproteste

Wer die Wochen vor der Öffnung der Grenzen verfolgt hatte, spürte, welche Kraft die friedliche Volksbewegung und der Massenprotest in der Zwischenzeit in der DDR entwickelt hatte. Die SPD-Fraktion des Abgeordnetenhauses hatte noch Anfang Oktober 1989, wie jedes Jahr, die DDR bereist. In Dresden waren Vertreter der SED, darunter Bezirkssekretär Hans Modrow, später letzter SED-Ministerpräsident, hohe Vertreter der evangelischen Kirche, Bürgerrechtler und Studierende unsere Gesprächspartner. Uns war klar: Ein Prozess der nachhaltigen Erneuerung der DDR war unumgänglich geworden. Der Druck von hunderttausenden Demonstranten in Leipzig, Dresden, Ostberlin, aber auch in Plauen und Schwerin, war ohne den Einsatz massivster Repression nicht mehr zurückzudrehen. Dass dieser Prozess in eine widerstandslose Öffnung der Grenzen münden könnte, schien uns zu der Zeit noch nicht vorstellbar. Nun allerdings, wenige Wochen danach, war das Machtmonopol der SED ins Wanken geraten. Die Forderungen nach Reisefreiheit, nach freien und geheimen Wahlen sowie gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Reformen waren inzwischen unüberhörbar auch in den Etagen des DDR-Machtapparates angekommen – und hatten ihn paralysiert.

Der 10. November war ein arbeitsreicher Tag, der im Zeichen der Vorbereitung auf den zu erwartenden Zustrom von Menschen aus der DDR nach West-Berlin stand. Im Abgeordnetenhaus wurde stundenlang an der Organisation der für den Abend geplanten Kundgebung gearbeitet. Allein die Festlegung der Redner löste eine Vielzahl politischer Kontroversen und Proteste aus. Nach längerem Hin und Her mit Vertretern der CDU-geführten Bundesregierung und den im Bundestag vertretenen Parteien wurde festgelegt, dass der Berliner Parlamentspräsident Wohlrabe, der Regierende Bürgermeister Momper, Bundeskanzler Helmut Kohl und der ehemalige Regierende Bürgermeister von Berlin und Bundeskanzler Willy Brandt zu den Menschen auf dem John-F.-Kennedy-Platz reden sollten.

Gemeinsame Resolution scheiterte

Der Versuch, eine gemeinsame Resolution aller demokratischen Fraktionen des Abgeordnetenhauses im Rahmen der Sondersitzung, die auf den Kennedy-Platz per Lautsprecher übertragen wurde, zu erreichen, scheiterte trotz intensiver Bemühungen und Gesprächen mit der CDU. Die Alternative Liste, Koalitionspartner der SPD, lehnte auf einer gemein- gemeinsamen Fraktionssitzung im Rat- haus Schöneberg die von der CDU ein- gebrachte Textpassage kategorisch ab.  Der vorgeschlagene Halbsatz war dem im Rahmen der Unterzeichnung des Grundlagenvertrags verfassten „Brief zur Deutschen Einheit“ in leicht veränderter Form entnommen worden. Er lautete: „ … in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit erlangen kann“. Das Wort „kann“ wurde hinzugefügt. Schließlich verabschiedete das Abgeordnetenhaus am 10. November mit den Stimmen der SP gegen die Stimmen der Republikaner (REP), bei Enthaltung der CDU, eine Entschließung, die die Hoffnung unterstrich, dass „die Grenze in unserer Stadt bedeutungslos wird“. Wir waren entschlossen, an dem Ziel festzuhalten, „auf einen Zustand des Friedens und der Einheit Europas hinzuwirken, in dem auch das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung zu der Gestaltung seines Zusammenlebens gelangen kann, für die es sich in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts entscheidet“. Dieses Abstimmungsverhalten im Abgeordnetenhaus bot keine gute Grundlage für die weitere politische Zusammenarbeit am Beginn einer historischen Weichenstellung. Standen doch die demokratischen Parteien in der Vergangenheit in allen Fragen existenziellen Interesses für die Stadt zusammen. Die Berliner CDU, getrieben von ihrer Fundamentalopposition gegen die rotgrüne Koalition, setzte ohne Rücksicht auf die noch unüberschaubare Lage auf die Einheit. In der SPD hingegen wurde unterschiedlich debattiert. Viele Fraktionsmitglieder hätten dem kontroversen Halbsatz zustimmen können, andere hielten ihn zu diesem Zeitpunkt für nicht angemessen. 

Noch hatte die Mauer nur Risse

Letztlich hat Willy Brandt mit seiner historischen Formulierung „Es wächst zusammen, was zusammengehört“ die Situation der Stunde richtig beschrieben. Noch hatte die Mauer nur Risse, die Zukunft der DDR war völlig offen. Ins- besondere in oppositionellen Kreisen war von Reform-Sozialismus die Rede, von der Idee einer Konföderation und eines Deutschen Bundes. Das Gebot der Stunde hieß: die Macht der SED brechen und Selbstbestimmungsrecht über freie Wahlen verwirklichen. Auch Brandt hatte verstanden, dass die Einheit des Landes organisch wachsen müsse. Die Frage der staatlichen Einheit oder einer Neuvereinigung stelle sich erst, wenn die Menschen in der DDR dies wollten. Gleichwohl würde er keine Option abweisen. Deshalb galt es für uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten, das Ziel der Einheit im Blick zu halten, aber den politischen Entwicklungsprozess in der DDR zu diesem Zeitpunkt nicht zu überfrachten. Darüber hinaus war zu diesem Zeitpunkt die Meinungsbildung der Siegermächte – im Besonderen der Sowjetunion – und der europäischen Staatengemeinschaft nicht wirklich vorher- sehbar.

Das Gebot der Stunde hieß: die Macht der SED brechen und Selbstbestimmungsrecht über freie Wahlen verwirklichen.

Ditmar Staffelt

Es war zweifelsfrei ein grober Fehler der Berliner CDU-Führung, dass sie es ablehnte, zur Kundgebung vor dem Rathaus Schöneberg aufzurufen. Vielmehr glaubte sie, aus einer separaten Kundgebung am Breitscheidplatz, auf der Kohl, Genscher, Waigel und Diepgen als Redner auftraten, politisches Kapital schlagen zu können. Dies misslang gehörig. Das sah wohl auch Helmut Kohl so. Die CDU trug mit ihrem Ausscheren eine gehörige Mitschuld daran, dass die Rede Helmut Kohls im Pfeifkonzert eines Teils der Besucher der offiziellen Kundgebung unterging. Ein gemeinsames Agieren der Berliner Parteien aus Anlass der Öffnung der Mauer wäre angemessener gewesen. Mit Genugtuung nahmen wir die Verlautbarung des DDR-Innenministers Dickel vom 10. November zur Kenntnis, dass die am Vorabend erlassene Reiseregelung keine befristete Maßnahme sei und dass das Grenzregime weiter vereinfacht werden solle. Diese Zusage hielt viele Menschen davon ab, die Gunst der Stunde für einen Wohnsitzwechsel nach Westen zu nutzen.

Es war die Stunde der Macher, der Praktiker

Am Wochenende des 11. und 12. November herrschte Volksfeststimmung. Rund zwei Millionen Menschen aus der ganzen DDR besuchten West-Berlin. Hinzu kamen viele Menschen aus Westdeutschland, die sich vor Ort ein Bild von der Lage machen oder auch feiern wollten. Es war die Stunde der Macher, der Praktiker: die BVG war mit allen verfügbaren Kräften im Einsatz. Westdeutsche Verkehrsunternehmen stellten zusätzlich Busse für den Linienverkehr zur Verfügung. Banken und Sparkassen, Bezirksämter und die Senatsdienststellen zahlten das ganze Wochenende über das Begrüßungsgeld in Höhe von 100 Mark aus. Restaurants, Cafés sowie Einzelhändler und karitative Organisationen boten Essen und Getränke gratis an. Die Polizei war rund um die Uhr im Einsatz. Unmögliches geschah: Volkspolizei und West-Berliner Polizei begannen eine zunehmend intensiver werdende Zusammenarbeit. Durch maßvolle Einsätze verhinderte die West-Berliner Polizei an verschiedenen Stellen der Stadt in dieser äußerst emotionalen Situation eine Eskalation. So kam es zu keinerlei Zusammenstößen, die die Volkspolizei zum Handeln gezwungen hätte. Nun galt es Konzepte zu entwerfen, um für beide Teile der Stadt gemeinsame Perspektiven zu eröffnen. Auf einer Klausurtagung am 18. und 19. November beschloss die SPD-Fraktion des Abgeordnetenhauses einen Ideenkatalog für die Zusammenarbeit mit Ostberlin und dem Umland. Dieser Katalog sah unter anderem folgende Schritte vor: Die Einrichtung eines Tarif- und Verkehrsverbundes für Gesamtberlin und das Umland. Darüber hinaus die Entbürokratisierung des Transitverkehrs und die Schaffung neuer Transitübergänge. An dritter Stelle sollten die die Bedingungen des Schienenverkehrs und der Binnenschifffahrt verbessert werden. Genauso wollten wir eine engere Zusammenarbeit zwischen den Flughäfen Berlin Tegel und Schönefeld sowie die Schaffung regionaler Energieverbünde. Auch sollte ein Regionalausschuss gebildet werden, dem der Bevollmächtigte der Bundesregierung in Berlin, der Chef der Senatskanzlei sowie die entsprechenden Vertreter der DDR-Regierung und des Ost-Berliner Magistrats ange- hören. Schließlich wollten wir das Begrüßungsgeld abschaffen, verbunden mit der Möglichkeit eines Umtauschs von DDR- in Deutsche Mark im Verhältnis eins zu vier beziehungsweise eins zu fünf sowie die Beseitigung des Zwangsumtausches für West-Berliner und Bundesbürger. Die Verzahnung der Infrastruktur beider Teile der Stadt sowie der Region und die Normalisierung des Alltags schienen uns der beste Weg, um an das Miteinander vor dem 13. August 1961 anzuknüpfen und das Erreichte zu sichern und auszubauen.

Der Senat und der Regierende Bürgermeister Walter Momper nahmen ihre Aufgabe als Motor auf dem Weg zur Einheit der Stadt mit großem Engagement war. Der Zerfall der SED, bedingt durch die Dynamik des friedlichen Revolutionsprozesses, eröffnete neue Spielräume für zukünftige Gestaltung des Miteinanders in Berlin und in anderen Teilen unseres Landes. Bereits am 22. Dezember konstituierte sich der Regionalausschuss Berlin – gebildet aus Vertretern beider deutscher Regierungen, der Stadtverwaltungen sowie der Bezirke Potsdam und Frankfurt/Oder. In 15 Arbeitsgruppen sollten die wichtigsten kommunalpolitischen Themen abgearbeitet werden. Erster Erfolg war die Schaffung eines gemeinsamen Tarifgebietes im ÖPNV mit der wechselseitigen Anerkennung von Fahrscheinen und Zeitkarten. West- und Ost-Berlin wieder funktionstüchtig miteinander zu verknüpfen, hatte oberste Priorität.

Gründung der SDP in Schwante

 Mit der Gründung der SDP der DDR in Schwante am 7. Oktober 1989 und der Konstituierung des Landesverbands Berlin der SDP am 5. November 1989 hatte die Berliner SPD neue Ansprechpartner. Mitglieder der Berliner SPD-Fraktion hatten schon zuvor gute Kontakte zu oppositionellen Kreisen in der DDR und in Ost-Berlin. Insoweit waren wir über die Entwicklung in den Monaten vor dem Fall der Mauer recht gut informiert. Nun standen uns Menschen gegenüber, die sich zur Sozialdemokratie bekannten. Gleichwohl betonten sie den Wunsch nach Eigenständigkeit, den wir selbstverständlich respektierten. Mit Gründung des Runden Tischs am 7. Dezember 1989 griffen zwei Vertreter der SDP unmittelbar in den revolutionären Prozess der Entmachtung der SED ein. Sehr schnell begannen Gespräche zur organisatorischen Unterstützung der SDP, weil wir davon ausgingen, dass es in absehbarer Zeit Wahlen in der DDR geben würde.  Im Dezember trafen wir uns erstmals als Vertreter der Abgeordnetenhausfraktion im Café Prag an der Leipziger Straße mit dem Vorstand der SDP. Die SDP war mit Ibrahim Böhme (Spitzenkandidat der SDP in der DDR für das Amt des Ministerpräsidenten bei den Volkskammer-Wahlen und später entarnter IM der Stasi), Konrad Elmer (späterer Bundestagsabgeordneter für Berlin-Pankow) und Martin Gutzeit (späterer Stasibeauftragter des Landes Berlin) vertreten. Wir vereinbarten, das Nötige an Papier, Kopierern und sonstigen Büromaterialien aus Spenden nach Ost-Berlin zu bringen. Auch sollten Schulungen in der politischen und organisatorischen Arbeit für eine breitere Gruppe von Mitgliedern der SDP durchgeführt werden. Dies war für uns keine unzulässige Einmischung in die Angelegenheiten der DDR. Uns und der Landespartei ging es darum, jene zu unterstützen, die das Machtmonopol von SED und der Blockparteien brechen und eine demokratische, freie Gesellschaft anstreben wollten.

„Die Einheit wächst von unten und wird weiterwachsen“

Unsere Unterstützung war eine Art Korrektiv bezogen auf den immensen organisatorischen Vorsprung von SED und Blockparteien und den Zugriff der SED auf die DDR Medien. Damit wurde auch ein Grundstein für die weitere enge Zusammenarbeit mit der SDP der DDR gelegt, die ab dem 13. Januar 1990 SPD der DDR war. Wenig später wurden die ersten Partnerschaften zwischen den Berliner und den Umland-Kreis- verbänden von SDP/SPD in der DDR und der SPD geschlossen. Sowohl im Wahlkampf zu den Volkskammerwahlen am 18. März 1990 als auch dem zur Stadtverordnetenversammlung am 6. Mai des gleichen Jahres standen wir West-Berliner Sozialdemokraten der neuen Partei zur Seite. Auf dem Parteitag am 26. September 1990 – sieben Tage vor der Wiedervereinigung – vereinigte sich die SPD der DDR mit der Sozial- demokratischen Partei Deutschlands.

Schon am 18. Dezember 1989 formulierte Willy Brandt auf dem nach Berlin verlegten Bundesparteitag der SPD, dass „wir der Deutschen Einheit näher sind, als dies noch bis vor kurzem erwartet werden durfte“ und „die Einheit von unten wachse und weiterwachsen werde“. Symbolisch stand hierfür die Öffnung des Brandenburger Tores am 22. Dezember 1989 im Beisein zehntausender Menschen. Das Jahr 1990 brachte schließlich die Entscheidung. Die Bür- gerinnen und Bürger der DDR machten von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch. Sie entschieden sich für Freiheit, Demokratie und für die Einheit.

Autor:in

Ditmar Staffelt

War von 1979 bis 1998 Mitglied des Berliner Abgeordnetenhaus, von 1989 bis 1994 Vorsitzender der SPD-Fraktion