Kann das Internet in Zeiten von Corona queeren Aktivismus abbilden? Darauf hat Mara Geri eine klare Antwort: Es sei eine Chance, doch nichts könne die Freiheit auf der Straße ersetzen. Zusammen mit Alfonso Pantisano bildet sie die Doppelspitze der SPDqueer Berlin. Im Interview mit der BERLINER STIMME sprechen sie über die momentane Situation der queeren Community.
BERLINER STIMME: Alfonso, wie hat sich queerer Aktivismus während der Corona-Krise entwickelt? Oder anders: Wie geht die Berliner queere Community mit der Corona-Krise um?
Alfonso: Corona hat auch die queere Community mit voller Wucht erwischt: Die CSD-Saison wurde vielerorts abgesagt und teilweise sollen neue digitale Konzepte ausprobiert werden. All das wird aber die für uns so wichtige Sichtbarkeit auf der Straße nicht ersetzen können. Unsere Vereine und Organisationen mussten viele ihrer Beratungsangebote einschränken und unsere Clubs, die für unsere Community Schutzräume sind, sind nun aufgrund der Schließungen in ihrer Existenz bedroht.
Die queere Community versucht gerade das Beste aus der Situation zu machen. Wir versuchen uns gegenseitig zu unterstützen, wir bieten Online-Veranstaltungen an und wir kümmern uns besonders um unsere queeren Seniorinnen und Senioren
Verschiedene Events finden demnach im Netz statt: Mara, ist das ein passabler Ersatz oder nur eine gutgemeinte Aktion? Bietet das Netz vielleicht sogar neue Chancen für queeren Aktivismus?
Mara: Der Berliner CSD wird am 27. Juli zum ersten Mal digital stattfinden. Wie sich dieses Event gestalten und vor allem, wie es von der Community angenommen wird, bleibt abzuwarten. Das Netz kann eine Chance für queeren Aktivismus sein, aber nichts kann die Begegnung, die Sichtbarkeit und die Freiheit auf der Straße ersetzen.
Ein kurzer Rückblick auf die Queere Woche: Wie ist gerade dieses besondere Datum in Zeiten von Corona abgelaufen? Was lief gut, was weniger?
Alfonso: Die SPDqueer Berlin hat dieses Jahr vom 11. bis 17. Mai die Queere Woche erstmals hauptsächlich digital veranstaltet. Wir haben Online-Diskussionen angeboten und viele Themen in den sozialen Netzwerken angesprochen. Am Kurt-Schumacher-Haus haben wir die Regenbogen- und Transsexuellenfahne gehisst.
Mara: Wir haben Lars Klingbeil aufgefordert, endlich dafür zu sorgen, die dritte Geschlechtsoption „divers“ in unserer Mitgliederdatenbank aufzunehmen. Seit Jahren diskutieren wir darüber und es tut sich faktisch nichts. Wer queer sagt, muss auch divers sagen. Da ist die SPD noch weit hinter der aktuellen Lebensrealität vieler Menschen zurück. Ein Sprung ins Jahr 2020 täte uns in dieser Frage gut.
Eine 2017 im Bundestag publizierte Untersuchung ergab, dass die Suizidrate von queeren Jugendlichen vier- bis sechsmal höher liegt als bei anderen Jugendlichen. Ist Deutschland doch nicht so tolerant, wie man gemeinhin annimmt?
Mara: Ich habe heute mit einer jungen Trans*Person gesprochen, die meinen Rat gesucht hat, weil sie sich als Frau outen will. Sie hat aber Angst davor, weil sie nicht weiß, wie Familie und Freundeskreis darauf reagieren. Auch die Frage, wie es auf der Arbeit werden wird, verunsichert sie, weil sie noch jung ist, Ambitionen hat und ihre berufliche Laufbahn plant. Wenn du so willst, ja, Deutschland macht es Trans*Personen und queeren Leuten sehr schwer.
Alfonso: Ich habe mich schon immer mit dem Begriff Toleranz schwergetan, denn es sagt, dass man etwas erträgt, was man nicht gut findet. Wir sollten aber lernen alle Menschen so akzeptieren, wie sie sind. Hier sind Eltern und Schulen gefragt. Kein Kind kommt auf die Welt und ist direkt eine Rassistin, ein Rassist oder homophob.
Kinder lernen das erstmals von ihren Eltern und tragen das dann in die Schule. Schwule Sau ist auf deutschen Schulhöfen eins der am häufigsten verwendeten Schimpfwörter. Auf Straßen, in Betrieben und im Verein wird es immer wieder als Beleidigung eingesetzt.
Mich wundert es nicht, dass in einem solchen diskriminierenden Umfeld queere Jugendliche an Selbstmord denken. Mich wundert es eher, dass das keinen zu stören scheint und unsere Gesellschaft nicht wirklich aktiv etwas dagegen unternimmt.
Das Berliner Anti-Gewalt-Projekt Maneo hat so viele Angriffe auf Schwule, Lesben und Trans*Personen wie nie zuvor gezählt: in der Hauptstadt sind es für 2019 559 Fälle – eine Steigerung zum Vorjahr um 32 Prozent. 2018 waren es noch 382 Übergriffe. Welche Ursache hat diese Steigerung?
Mara: Ein Jahr hat 365 Tage, da sind 559 gemeldete Angriffe auf queere Menschen erschreckend, denn das heißt, dass jeden Tag mehr als eine Person beleidigt, bedroht, körperlich und psychisch angegriffen und teilweise schwer verletzt wird.
Als Trans*Person abends durch die Stadt zu laufen oder U-Bahn zu fahren, ist für viele mit großer Angst verbunden.
Mara Geri
Alfonso: Und das ist nur die Zahl derer, die diese Angriffe melden. Die Dunkelziffer ist definitiv höher.
Mara: Als Trans*Person abends durch die Stadt zu laufen oder U-Bahn zu fahren, ist für viele mit großer Angst verbunden. Schwule, die Hand in Hand laufen, tun es immer mit der Sorge, dass sie angegriffen werden können. Transphobie und Homophobie sind sehr präsent in unserer Stadt. Unsere Gesellschaft teilt sich wieder auf in die Guten und die Bösen, die Richtigen und die Falschen. Diese Polarisierung ist gefährlich und führt leider auch zum Anstieg von Hasskriminalität.
In Polen, also mitten in Europa, werden Zonen ausgerufen, in denen queere Menschen ausgeschlossen und als nicht erwünscht gelten.
Alfonso Pantisano
Alfonso: Wir sind aber auch sehr viel selbstbewusster geworden und bringen diese Angriffe, die wir früher verschwiegen haben, zur Anzeige. Da können wir in Berlin von Glück sprechen, dass wir eine bessere Sensibilisierung der Polizei gegenüber queeren Menschen und bei der Staatsanwaltschaft eine eigene Abteilung haben, die sich ausschließlich mit homophoben und transphoben Fällen auseinandersetzt.
Am 17. Mai – dem internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie – habt ihr euch für ein entschlossenes Vorgehen gegen Homo- und Transfeindlichkeit ausgesprochen. Was meint ihr damit konkret?
Mara: In über 60 Ländern der Welt werden Menschen, die sich nicht als heterosexuell definieren, strafrechtlich verfolgt. In zwölf dieser Länder droht Homosexuellen sogar die Todesstrafe. Darunter sind viele Länder, in denen wir Urlaub machen und mit denen unsere Bundesregierung partnerschaftliche Verhältnisse pflegt.
Wenn wir überhaupt keinen Rassismus in unseren Behörden hätten, hätten wir uns ein solches Gesetz in Berlin sparen können.
Mara Geri
In Polen, also mitten in Europa, werden Zonen ausgerufen, in denen queere Menschen ausgeschlossen und als nicht erwünscht gelten. Das Parlament in Ungarn hat vor ein paar Wochen ihren Trans*Personen die Existenz abgesprochen. Diese Zustände sind untragbar und die Uhren werden an vielen Stellen zurückgedreht.
Wir erwarten von unserer Bundesregierung, dass sie hier interveniert und sich während der EU-Ratspräsidentschaft für Belange der queeren Community einsetzt.
Als erstes Bundesland überhaupt hat Berlin ein Landesantidiskriminierungsgesetz. Wie bewertet ihr das Gesetz im Hinblick auf die queere Community?
Mara: Früher haben wir homo- und transphobe Angriffe oft nicht bei der Polizei zur Anzeige gebracht, weil wir selbst dort immer wieder nicht ernst genommen und teilweise weiter diskriminiert wurden. Dann hat die Berliner Polizei ihre Beamtinnen und Beamten vorbildlich geschult und sensibilisiert. Seitdem hat sich viel getan, heute haben wir sogar queere Ansprechpersonen bei der Berliner Polizei.
Dennoch kann es passieren, dass queere Menschen und andere vermeintliche Minderheiten auch bei der Polizei sowie auf Ämtern und Behörden zum Beispiel Trans- und Homophobie sowie Rassismus erleben. Das Landesantidiskriminierungsgesetz allein wird keine Diskriminierung beseitigen, aber es gibt Betroffenen die Gelegenheit, sich notfalls gegen diese Diskriminierungen zu wehren.
Unsere SPD-Parteivorsitzende Saskia Esken hat die Debatte um latenten Rassismus zum Beispiel in unserer Polizei angestoßen. Dafür wurde sie scharf und wie ich finde, zu Unrecht kritisiert, denn wenn wir überhaupt keinen Rassismus in unseren Behörden hätten, hätten wir uns ein solches Gesetz in Berlin sparen können.
Wir werden als SPDqueer Berlin politisch alles tun, um unsere Community zu schützen.
Alfonso Pantisano
So ehrlich müssen wir also sein: Wir haben ein Problem mit Rassismus. Und zwar überall. Auch bei der Polizei, der Bundeswehr und in Betrieben, Vereinen und auf der Straße sowieso. Wer das nicht ansprechen will, schützt am Ende die Angreifer und nicht die Angegriffenen. Daher ist aus unserer Sicht dieses Gesetz ein Meilenstein für die Antidiskriminierungs-politik.
Glaubt ihr, dass die Corona-Krise die LGBTIQ-Community in Zukunft verändern wird?
Alfonso: Die Corona-Krise kann sich zu einem Tsunami für unsere queere Community entwickeln. Unseren vielen Künstlerinnen und Künstler in Theatern, Opernhäuser und kleinsten Kabarettbühnen droht eine gewaltige Arbeitslosigkeit. Unsere Vereine und Organisationen fürchten, dass ihnen staatlich zugesicherte Fördermittel, die ihre Arbeit überhaupt erst ermöglichen, wieder gestrichen werden, weil wir irgendwann überall sparen müssen, wo es geht.
Unsere Clubs haben noch sehr ungewisse Zeiten vor sich. Durch Corona droht uns, dass viele von uns aus dem öffentlichen Raum weggespült werden. Das wäre katastrophal für unsere Community und ein riesiger Verlust für unser Berlin. Mara: Aber eins können wir versprechen: Wir werden als SPDqueer Berlin politisch alles tun, um unsere Community zu schützen.