Berliner Stimme 4|2020: „Ohne Frieden ist alles nichts“

Karl-Heinz Niedermeyer ist Sprecher des Fachausschusses für Internationale Politik, Frieden und Entwicklung. In einer Nachlese für die aktuelle Ausgabe der BERLINER STIMME geht er einer wichtigen Frage nach: Wie kann der Frieden in einer Welt erhalten werden, die immer mehr aus den Fugen gerät und die Blütezeit einer transatlantischen Harmonie endgültig vergangen zu sein scheint?

Das friedenspolitische Profil, das sich der Fachausschuss I (FA I) in den knapp 20 Jahren seines Bestehens gegeben und ein Stück weit auch der SPD Berlin insgesamt zu geben versucht hat, drückt sich schon in seinem Namen aus: Hochhalten eines demokratischen Internationalismus und der internationalen Solidarität als Markenkern des demokratischen Sozialismus, Frieden als Ziel und zugleich Voraussetzung jeder aufbauenden Politik und zwar ein Frieden, der mehr ist als die Abwesenheit von Krieg.

Darüber hinaus Entwicklung als das gemeinsame Streben aller Völker in der einen Welt, die Ressourcen dieses Globus – in Respekt vor dem gemeinsamen Naturerbe und vor künftigen Generationen allen in gleicher Weise für ein menschenwürdiges Leben zugänglich zu machen.

Karl-Heinz Niedermeyerprivat
Karl-Heinz Niedermeyer auf einer Demonstration vor dem Kanzleramt gegen die damalige Atompolitik der Kanzlerin.

Für einen solchen dreidimensionalen politischen Ansatz steht das politische Lebenswerk von Willy Brandt und das Bild von seinem Kniefall in Warschau bildet daher zu Recht ein zentrales Element des Titelcovers der aktuellen Ausgabe der BERLINER STIMME (BS). Frieden bildet das Zentrum dieses Ansatzes, denn, um es mit den Worten des Friedensnobelpreisträgers selbst zu sagen: „Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts!“

Es sind die sprichwörtlichen harten Nüssen der internationalen Politik als Friedenspolitik, die Deutschland als Führungsmacht des demokratischen Europas vor allen anderen EU-Mitgliedern zu knacken hat. An erster Stelle steht dabei die Nukleare Teilhabe beziehungsweise der SPD-interne Streit um den Fortbestand der Lagerung von US-Atomwaffen in Deutschland und deren geplante Modernisierung sowie die Anschaffung einer neuen Generation von Trägerflugzeugen für sie.

Zu letztgenanntem Thema diskutieren am 15. Juni die Bundestagesabgeordneten Karl-Heinz Brunner und Fritz Felgentreu auf einer vom FA I organisierten Online-Veranstaltung. Eine weitere harte Nuss ist der Gesamtkomplex Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung.

Hier verweist Niels Annen im Interview mit der BS auf die Stockholm-Initiative von 13 Nichtkernwaffenstaaten, unter anderem Schweden als Initiator und Deutschland als wichtigster Unterstützer. So wichtig diese Initiative und ihre Unterstützung durch Deutschland sind, sie selbst schließt schon das Eingeständnis des Scheiterns aller Versuche ein, die Kündigung des INF-Vertrags zur Verschrottung von Mittelstreckenraketen durch die USA und Russland und damit das Herausbrechen einer zentralen Säule aus dem Geflecht von Verträgen zur atomaren Abrüstung zu verhindern.

Nukleare Abrüstung

Der FA I hat im Vorfeld dieser fatalen Entscheidung einen Beschluss der SPD Berlin vorbereitet, der detaillierte Vorschläge zum Umgang mit dieser Problematik gemacht hat, aus der heutigen Sicht leider vergeblich. Es ist wirklich die Frage, wie die weitere Verbreitung von Nuklearwaffen verhindert werden kann und Staaten außerhalb des Kreises der anerkannten Nuklearstaaten wie Nordkorea, Pakistan, Indien, Israel und Iran, die bereits über Nuklearwaffen verfügen oder sich die Option offenhalten, solche Waffen zu entwickeln und politisch zu nutzen von der Überzeugung abgebracht werden können, dass nur diese nukleare Option sie in die Lage versetzt, im Konfliktfall ihre nationalen Interessen zu sichern, wenn es in der internationalen Nukleardiplomatie keinerlei realistische Ansätze gibt, nukleare Abrüstung voranzubringen.

Dies betrifft sowohl den Druck auf die ursprünglichen Atommächte USA, Russland, Großbritannien und Frankreich, ihrer im Atomwaffensperrvertrag verankerten Verpflichtung nach nuklearer Abrüstung mit dem Ziel der völligen Abschaffung der Atomwaffen nachzukommen, wie sie noch der damalige US-Präsident Barack Obama in seiner Prager Rede von 2009 angesprochen hat als auch die fehlende Unterstützung für den 2017 von einer Mehrheit der in der UN-Generalversammlung beschlossenen Atomwaffenverbotsvertrag.

Berlin hat sich übrigens wie das Land Bremen auch auf Initiative der 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Organisation ICAN und mit Unterstützung des FA I in einem Beschluss des Abgeordnetenhauses die Bundesregierung aufgefordert, den Atomwaffensperrvertrag zu unterschreiben und zu ratifizieren und sich damit sozusagen zur atomwaffenfreien Zone erklärt.

Angesichts dieser Defizite gerade in der Haltung Deutschlands als dem wirtschaftlich und politisch stärksten Nichtkernwaffenstaat bleibt die Parole einer atomwaffenfreien Welt von Staatsminister Niels Annen ein reines Lippenbekenntnis, denn immer wenn es darum geht, eine etwas unabhängigere Position in Konflikten einzunehmen, welche zentrale Interessen der USA berühren und damit auch eine Mittlerrolle übernehmen zu können, wie sie etwa Ute Finckh-Krämer in dem Streitgespräch in der aktuellen BS mit Fritz Felgentreu im Afghanistan-Konflikt einfordert, bleibt Deutschland auch mit einem SPD-Außenminister Heiko Maas in tradierter Vasallentreue an der Seite der USA, auch in Zeiten, in denen US-Präsident Donald Trump gerade dabei ist, neben der in Jahrzehnten aufgebauten regelbasierten multilateralen Weltordnung auch die Grundlagen der nuklearen und konventionallen Abrüstung zu zertrümmern.

Testfall Libyen

Jüngstes Beispiel ist der angekündigte Rückzug der USA aus dem Open Skies-Vertrag, einem der wichtigsten Instrumente der Rüstungskontrolle, Vertrauensbildung und Transparenz zwischen der Nato und Russland, mit denen insbesondere die Entstehung eines Krieges durch Zufall und Missverständnisse verhindert werden kann.

Die Verhinderung eines unumkehrbaren Ausstiegs beider Partner aus diesem Vertrag bildet eine weitere Herausforderung für die Leistungsfähigkeit der von Heiko Maas ins Leben gerufenen Allianz für Multilateralismus. Der Testfall Libyen, in dem Deutschland erst einmal mit einer hochrangigen Konferenz in Berlin zur Vorbereitung eines Waffenstillstands und längerfristig einer Friedenslösung in diesem nach dem Sturz Muammar al-Gadaffi ins Chaos gestürzten Land große Hoffnungen geweckt hat, ist ja leider weitgehend negativ ausgegangen: Der Bürgerkrieg geht unverändert weiter, auch in Missachtung des Appells des UNO-Generalsekretärs, wegen Corona die bewaffneten Auseinandersetzungen weltweit wenigstens zeitweise einzustellen.

Die jetzt auch mit deutscher Beteiligung durch einen Beschluss des Bundestags eingesetzte EU-Mission Irini (Frieden) zur Überwachung des Boykotts von Waffenlieferungen nach Libyen wird an diesem beklagenswerten Zustand kaum etwas ändern, weil sie nur Seetransporte kontrollieren kann und damit auch noch die Bürgerkriegspartei des Generals Chalifa Haftar begünstigt, die ihren Nachschub von Waffen und Söldnern überwiegend auf dem Landweg und dem Luftweg erhält.

Ein weiteres Problem ist das eingeschränkte Operationsgebiet der Mission, mit dem sie daran gehindert werden soll, sozusagen als Kollateralnutzen Geflüchtete aus Seenot zu retten und diesen dadurch den Weg nach Europa zu öffnen. Auf diese Weise gehört es auch zu den Ergebnissen der deutschen Libyen-Initiative, dass das Elend der Geflüchteten im östlichen Mittelmeer und in von Milizen der verschiedenen Bürgerkriegsparteien kontrollierten Lagern weiter besteht, wohl ein wegen der damit verbundenen Abschreckungswirkung für weitere Fluchtwillige offenbar durchaus erwünschter Nebeneffekt.

Aufbau einer unabhängigen Position Europas

Aber das zentrale Feld, an dem sich die deutsche Außenpolitik als Friedenspolitik bewähren muss, ist der Aufbau einer unabhängigen Position Europas zwischen den großen Mächten USA, China und Russland. Deutschland kommt eine zentrale Rolle zu bei der Aufgabe, die EU nicht nur als die für ihre Nachbarregionen so attraktive größte Friedens- und Wohlstandszone der Erde zu erhalten, sondern sie zugleich gegebenenfalls auch mit dem Instrument der Europäisierung der Sicherheitspolitik, zu dem auch das Ziel einer europäischen Armee gehört, zu einer global aktiven Agentur zur Zivilisierung von Konflikten zu machen, wie es in einem vom FA I mit herbeigeführten Landesparteitagsbeschluss zur Europäisierung der Sicherheitspolitik heißt.

Europa braucht in diesem Sinne digitale Souveränität etwa beim Ausbau des 5 G-Netzes. Außerdem braucht es genau drei wichtige Fähigkeiten. Die erste besteht darin weiterhin in Konflikten wie dem zwischen den USA und Iran zu einer drohenden atomaren Aufrüstung des Iran, wie schon bei der Herbeiführung des Iran-Atom-Abkommens aktiv zu vermitteln.

Lang andauernde Konflikte beenden

Eine weitere Fähigkeit ist, wie noch in Zeiten des Nahost-Quartetts USA, Russland, UNO und EU wirksam an einer Friedenslösung des Nahost-Konflikts auf der Basis der Zweistaaten-Lösung zu arbeiten. Solche diplomatischen Fähigkeiten und Beiträge wären im Übrigen auch die Voraussetzung für die Realisierung eines zentrales Projekts der globalen Abrüstung von ABC-Waffen, nämlich einer massenvernichtungswaffenfreien Zone im Nahen Osten, die sowohl die israelischen Atomwaffen als auch das Potential des Iran zur Entwicklung von Atomwaffen einschließen würde.

Die letzte Fähigkeit betrifft die lang andauernden bewaffneten Konflikte wie in Afghanistan, Mali, dem Südsudan oder Somalia nicht schwerpunktmäßig mit eigenen oder von den UN mandatierten Militäreinsätzen, sondern mit dem gesamten Instrumentarium der Friedensdiplomatie, zivilen Konfliktprävention und Konfliktbearbeitung und des zivilen Wiederaufbaus zu beenden.

Defizite der deutschen Außen- und Friedenspolitik

Zu diesem Problemfeld finden sich eine Reihe wichtiger Gedanken in dem Streitgespräch in der aktuellen BS zwischen Ute Finckh-Krämer und Fritz Felgentreu. Zum Schluss sollen noch einmal die derzeitigen Defizite der deutschen Außen- und Friedenspolitik in den transatlantischen Beziehungen eine Rolle spielen, die nicht nur unzureichenden Beiträge zur Entschärfung des neuen Kalten Kriegs zwischen den USA und Russland betreffen. Es geht einmal um den Umgang mit dem Konflikt zwischen den USA und dem Iran.

Deutschland und die EU tun entschieden zu wenig, um dem Iran wenigstens die wirtschaftlichen Vorteile durch Abbau von Sanktionen im Zahlungsverkehr zu verschaffen, auf die Iran auch nach der Aufkündigung dieses Abkommens einen gerechten Anspruch hat. Diese Haltung treibt den Iran immer mehr dazu, sich selbst weiteren Verpflichtungen aus dem Abkommen zu entziehen und letztlich das ganze Abkommen in Frage zu stellen – eine Haltung, welche die Hardliner des Regimes von vornherein befürwortet haben.

Israel-Palästina-Konflikt

Damit entfallen auch immer diplomatische Möglichkeiten zur Eindämmung der destruktiven Rolle des Iran in den verschiedenen Konfliktfeldern des Nahen Ostens. Es ist in diesem Kontext auch nicht zielführend, dass Deutschland und andere EU-Länder bei Streitigkeiten über Verletzungen des Iran-Atom-Abkommens das im Vertrag vorgesehene Streitschlichtungsverfahren allein im Sinne der Interessen der USA und zu Ungunsten des Iran anwenden.

Was den Israel-Palästina-Konflikt betrifft, ist es falsch, dass Deutschland Ermittlungen der Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs Fatou Bensouda zur israelischen Besatzungspolitik zu blockieren versucht und die palästinensische Autonomieregierung an Stelle ihrer Suche nach Unterstützung im UNO-System auf Verhandlungen mit der israelischen Regierung verweist, in denen, wie die immer wieder gescheiteren Verhandlungen in den letzten Jahrzehnten beweisen, die palästinensische Seite auf lange Sicht völlig chancenlos ist.

Wie steht die SPD da?

Wie steht die SPD mit ihrer internationalen Politik heute da in einer Welt, die immer mehr aus den Fugen geht und in der die Blütezeit einer regelbasierten multilateralen Weltordnung sowie der transatlantischen Harmonie endgültig vergangen zu sein scheint? Was die Themen Rüstungskontrolle und atomare Abrüstung betrifft, ist es sicher ein Glücksfall, dass mit Rolf Mützenich jetzt der kompetenteste und engagierteste Protagonist diese Kernziele sozialdemokratischer Politik die Fraktionsführung übernommen hat.

Aber ihm stehen – nicht nur in der Frage der nuklearen Teilhabe – mit Heiko Maas und Niels Annen in der Regierung und Fritz Felgentreu, Wolfgang Hellmich, Christoph Matschie und anderen in der Fraktion einflussreiche Kräfte gegenüber, die am tradierten Bild der transatlantischen Beziehungen festhalten und auch eine nur geringe Entfernung von der vorausgesetzten Interessenidentität zwischen den USA und Deutschland – und in gleicher Weise zwischen Deutschland und der jeweiligen israelischen Regierung – für nicht vereinbar mit der deutschen Staatsraison und der Regierungsfähigkeit der SPD halten.

Manchmal kommt mir das so vor, als versuchte ein deutscher Schwanz weiter mit – oder vielleicht vielmehr an – einem amerikanischen Hund zu wedeln, den es in dieser Gestalt nicht mehr gibt.