Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin HikelSPD Berlin/Sebastian Thomas

Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel im Gespräch: Bienenstich bis Baklava

Für Martin Hikel bedeutet Neukölln an erster Stelle Vielfalt. Der Begriff passt: 150 Nationen leben in dem Bezirk im südlichen Teil Berlins. 46 Prozent der 330.000 Einwohner:innen haben eine Migrationsgeschichte. Dazu kommen 88 Kleingartenanlagen sowie 80 Religionsgemeinschaften. Davon profitiert Neukölln enorm, immer mehr Menschen zieht es in den Bezirk – doch es gebe auch Schattenseiten.

vorwärtsBERLIN: Lieber Martin, du hast in einem Interview mal gesagt Neukölln reiche von „Bienenstich bis Baklava“ – was bedeutet das?

Martin Hikel: Bienenstich und Baklava bedeutet, dass 150 Nationen Neukölln ihr zu Hause nennen. 46 Prozent der 330.000 Menschen in Neukölln haben eine Migrationsgeschichte. 88 Kleingartenanlagen gehören genauso dazu wie 80 Religionsgemeinschaften. Neukölln, das ist an erster Stelle die Vielfalt, die alle diese Menschen mit ihren verschiedenen Hintergründen prägen.

Aber das ist ja nicht alles: Mit der Neuköllner Oper, unseren kommunalen Galerien, dem Schloss Britz, dem Heimathafen, dem Zentrum für zeitgenössische Kunst auf dem ehemaligen Kindl-Gelände sowie vielen weiteren Ateliers und kulturellen Werkstätten hat sich eine einzigartige und vielfältige Kulturszene bei uns etabliert. Mit dem SchwuZ (queerer Tanzclub, Anm. d. Red.) und dem Theater im Keller sind Pioniere der queeren Szene bei uns zu Hause. Unser UNESCO-Weltkulturerbe Hufeisensiedlung als prämierte Siedlung der Moderne zieht Architekturinteressierte aus der ganzen Welt an.

Neue Kreativität, neue Konflikte

So breit ist die Spannbreite der Vielfalt, mit all ihren Sonnenseiten, aber auch all ihren Schattenseiten und Herausforderungen. Vielfalt ist bei uns in vielen Bereichen Normalität. Darunter verstehen wir: Vielfalt als Normalität verspricht individuelle Entfaltung und Freiheit. Und das hat sich in den vergangenen 15 Jahren rumgesprochen, weshalb Neukölln ein Magnet für Menschen aus der ganzen Welt geworden ist.

Deshalb ist Neukölln auch nicht mehr das, was es vor 15 Jahren war. Neue Kreativität, aber auch ganz neue Konflikte – es ist fast unmöglich geworden, hier Wohnraum zu bekommen, von bezahlbarem ganz zu schweigen. Die Vielfalt bringt also auch die gesamte Spannbreite an Konflikten mit sich. Leider gehört das Thema Rechtsextremismus auch zum Bezirk, erinnert sei an die Brandanschlagsserie.

Ebenso beschäftigt uns religiöser Extremismus und seine Ausläufer, bei uns insbesondere der Islamismus. Aber auch das Thema organisierte Kriminalität, vor allem Clankriminalität, ist ein Phänomen, das uns in Neukölln bereits seit vielen Jahren bekannt ist und das uns umtreibt. Gleiches gilt für stadtentwicklungspolitische und sozialpolitische Fragen von bezahlbarem Wohnraum oder Fragen nach moderner Mobilität, wenn eine Stadt so verdichtet ist. Die Themen gehen uns jedenfalls hier nicht aus.

Integration und Bildung gehören für dich an vorderster Stelle zusammen. Wie spiegelt sich das in Neukölln wider? Gibt es in diesem Zusammenhang Leuchtturmprojekte?

Integration im Sinne von Teilhabe schaffen ist der Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben. Leider hat die Bundesrepublik jahrzehntelang keine Integrationspolitik gemacht, sondern man ging davon aus, dass die angeworbenen, eingewanderten oder geflohenen Menschen wieder verschwinden würden und hat danach politisch gehandelt. Und welch Überraschung, die Menschen blieben trotzdem. Glücklicherweise – und das kann man nicht oft genug betonen – hat die überwiegende Mehrheit der eingewanderten Menschen ihren Weg hier in Deutschland gefunden. Das ist etwas, worauf die Menschen stolz sein können.

Armut mit Bildung bekämpfen

Und trotzdem sehen wir Ausläufer von wenigen, die sich eine Existenz abseits der Legalität aufgebaut haben und wir sehen leider immer noch, dass das Armutsrisiko von Menschen mit Migrationsgeschichte mehr als doppelt so hoch ist als der Durchschnitt. Diese Menschen können also nur eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Diesen Kreislauf wollen wir in Neukölln durchbrechen – und wir setzen dabei voll auf unsere Bildungsinstitutionen.

Campus Rütli ist ein Beispiel dafür: Hier wurde eine Bildungsinstitution rund um die gesamte Biografie eines Kindes konzipiert – mittendrin im Kiez. Zum Campus gehören Kita, Grundschule, Oberschule, Berufswerkstatt, Jugendfreizeiteinrichtung, gesundheitliche Angebote bis hin zum Stadtteilzentrum mit Elterncafé. Die Förderung unserer Kinder durch unsere Institutionen ist die beste Chance dafür, dass sie fit für unser gesellschaftliches Leben werden. Das müssen uns dann diese Institutionen dann aber auch wert sein.

Kurz zur Landespolitik: Berlin möchte einen Nachfolger für das 9-Euro-Ticket schaffen – wie bewertest du dieses Vorhaben?

Der revolutionäre Moment des 9-Euro-Tickets bestand darin, dass für den gesamten Nahverkehr in Deutschland ein einheitlicher und bezahlbarer Tarif geschaffen wurde. Habe ich vorher für mein AB-Ticket 86 Euro pro Monat – beziehungsweise rund 63 Euro im Abo – gezahlt, waren es anschließend 9 Euro und ich kam damit durch den Nahverkehr der ganzen Republik – ob Berlin, Hamburg, München, Köln oder der Regio nach Cottbus – und ich musste nicht an der Stadt- beziehungsweise Tarifgrenze ein neues Ticket kaufen. Deshalb finde ich es richtig, dass wir den Druck für ein dauerhaftes Nachfolgeticket aufrechterhalten. Die Ankündigung im dritten Entlastungpaket des Bundes gibt die Zusage für ein Nachfolgeticket im Preiskorridor von 49 bis 69 Euro vor, sofern die Länder mitmachen und auch investieren.

„Zum Status Quo des bestehenden Tarifsystems wäre das eine Revolution und ein zentraler Schritt zu einer nachhaltigen Mobilität.“

Martin Hikel, Bezirksbürgermeister von Neukölln

Zum Status Quo des bestehenden Tarifsystems wäre das eine Revolution und ein zentraler Schritt zu einer nachhaltigen Mobilität. Immerhin müsste im Metropolenraum Berlin ein Pendler aus dem näheren Umland für sein ABC-Ticket nicht mehr über 100 Euro – beziehungsweise rund 85 Euro im Abo – zahlen. Das ist momentan in einigen Regionen nicht sonderlich attraktiv, weil der Ausbau mäßig ist und der Preis verhältnismäßig hoch erscheint. Wird das Tarifsystem vereinheitlicht und der Preis bleibt in dem beschriebenen Korridor, kurbelt das sicherlich die Nachfrage an und wird dadurch mittelfristig zu einem Ausbau des Schienennetzes sowie einer allgemeinen Stärkung des ÖPNV führen. Hier liegt für mich der Schlüssel für eine nachhaltige Mobilität.

Wenn du gerade einmal nicht Bezirksbürgermeister bist – wie momentan beispielsweise – wo in Neukölln könnte man dich antreffen und warum?

Man kann mich regelmäßig im Grünzug von Britz nach Rudow antreffen, wenn ich dort meine Laufrunden drehe.

Autor:in

Sebastian Thomas

Redakteur der BERLINER STIMME und des vorwärtsBERLIN