Pippi Langstrumpf und das fliegende Klassenzimmer: Was Deutschland und Schweden voneinander lernen können

Schon seit einiger Zeit ist es sehr verbreitet, bei der Suche nach Lösungen unserer Probleme auf den „skandinavischen Weg“ zu verweisen. Gerne gerät das mehr und mehr zur pauschalen Antwort auf alle möglichen Fragen, mit denen wir uns in Deutschland herumschlagen. Klimawandel, Mobilität, Bildung, Rechtspopulismus, Arbeitsleben – schauen wir doch mal, wie es die Schweden machen.

Aber – wo hat Schweden die Nase tatsächlich vorn und weshalb? Und können wir das dann einfach so für uns übernehmen? Und gibt es nicht auch Dinge, die wir Deutschen besser machen und die deshalb für Schweden interessant sind? Diese Fragen gilt es zu klären und statt wie so oft nur die deutsche Perspektive zu beschreiben, wird Erik im Folgenden den Blick nach Deutschland richten und ich werde umgekehrt nordwärts nach Schweden schauen.

Doch Vorsicht; was man wissen muss, bevor man beim nördlichen Nachbarn „abschreibt“

Als vor mittlerweile über drei Jahren der ‚vännercirkeln – tyska och svenska socialdemokrater‘ (Freundeskreis deutscher und schwedischer Sozialdemokrat:innen) gegründet wurde, gehörte auch ich (Daniel Behrendt) noch zu der Gruppe skandiphiler Genossinnen und Genossen, die annahmen, dass in Schweden per se alles besser läuft als bei uns.

Wie sollte es auch sein, wird die schwedische Regierung doch bald 100 Jahre, nur ab und an kurz unterbrochen, von den sozialdemokratischen Kamerad:innen regiert und große Namen wie Per Albin Hannson, Tage Erlander oder Olof Palme, den ich als schwedischen Willy Brandt bezeichnen würde, haben eine klar sozialdemokratische Note in ihrem Land hinterlassen. Doch eben diese ‚kurzen Unterbrechungen‘ haben es in sich.

Zuletzt waren es vor allem die Moderaten unter Fredrik Reinfeldt, in einer Minderheitsregierung mit Liberalen, Zentrumspartei und Christdemokrat:innen, die langjährige Errungenschaften der schwedischen Sozialdemokratie wieder zurückgefahren haben. – So hat zwischen 2006 und 2014 zuletzt alleine die Regierung von Reinfeldt erhebliche Steuersenkungen und Sparmaßnahmen in den Kranken- und Arbeitslosenfonds durchgeführt. Unter der sehr marktfördernden politischen Führung haben gewinnorientierte Unternehmen im Sozialsektor ihre Position ausbauen können.

Die Unterschiede in der Gleichstellungs-, aber auch der Arbeitsmarktpolitik der beiden Länder sind so offensichtlich, dass es einem förmlich in den Fingern juckt, das eine oder andere schwedische Modell auf Deutschland zu übertragen. Doch dabei ist Vorsicht geboten. Die Sozialisierung in Schweden setzt andere Schwerpunkte. Das Individuum steht in Schweden im direkten Verhältnis zum Staat, in Deutschland wiederum existiert das Verhältnis Staat – dann Familie – dann der Mensch als Teil der Familie.

Dies führt zu einem anderen Selbstverständnis und auch zu einem anderen Verantwortungsbewusstsein und vor allem einem anderen Ausmaß an Vertrauen gegenüber eben diesem Staat und den anderen Teilen der Gesellschaft. Wir aus deutscher Sicht beschreiben dies gerne als Obrigkeitshörigkeit, aber tatsächlich dürfte es eher das Verständnis sein, dass auch der Staat nur seine Ziele und damit die Ziele der gesamten Gesellschaft erreicht, wenn auch ich, wie jede andere Person in Schweden auch, meinen Teil dazu beitrage.

Das größere Verantwortungsbewusstsein äußert sich im Arbeitsleben zum Beispiel darin, dass Hierarchien deutlich flacher angelegt werden können, als in Deutschland. Etwas überspitzt stellen manche Arbeitnehmer in Schweden die noch scherzhaft gemeinte Frage, wozu man überhaupt eine Chefin/einen Chef brauche und tatsächlich verstehen sich offiziell Vorgesetzte oft eher als Teamsprecher:in und Vertreter:in einer Gruppe.

Der Blick nach Süden – Erik Ezelius blickt nach Deutschland

Mein politisches Engagement wurde während meiner Gymnasialzeit in den frühen 2000er-Jahren geweckt. Ich bin der SSU beigetreten, hauptsächlich weil es die Jugendunion der Sozialdemokraten war, die sich am deutlichsten für Gleichheit und internationale Solidarität einsetzte. Ich wurde auch früh ein starker Befürworter der EU, was innerhalb der politischen Linken nicht selbstverständlich war.

Schweden wurde 1995 Mitglied der EU und als ich begann, mich politisch zu engagieren, begann die Debatte über Vor- und Nachteile eines Beitritts Schwedens in die EU. Obwohl ich beim Referendum 2003 nicht mitwählen durfte, trat ich dafür ein, dass Schweden dem Euro beitritt – das Ergebnis war leider ein klares Nein mit etwa 56 Prozent der Stimmen – und beteiligte mich aktiv am Wahlkampf für das Europäische Parlament im Jahr 2004. Dies alles parallel zu meinem politischen Engagement und der Schule in der übrigens – ich übertreibe nicht – Deutsch mein Lieblingsfach war.

Wahrscheinlich, weil die Sprache viele Ähnlichkeiten mit dem Schwedischen besitzt, aber auch weil der Kontakt mit deutscher Kultur, Film, Musik und Literatur mein Interesse geweckt hat. Es gab mehrere Sprachreisen nach Deutschland, sowohl kurze, als auch längere, wie meine Diplomarbeit an der Helmut-Schmidt-Universität. Leider wurde Deutsch in den letzten Jahren seltener verwendet. Ich habe mir schon lange das Ziel gesetzt, mein Wissen aufzufrischen und hoffe, dass meine deutschen Freunde nach diesem Artikel Druck auf mich ausüben, dies auch endlich zu tun.

Aber diese Zeit hat mich tief beeindruckt. Erst die Treffen mit meinen deutschen Kamerad:innen oder Genoss:innen haben mich dazu gebracht, mich ‚Europäer‘ zu nennen. Seit ich 2014 Mitglied des schwedischen Parlaments wurde, hatte ich auf verschiedene Weise die Möglichkeit, mich mit EU-Fragen zu befassen. Dies bedeutet unter anderem einige Reisen und Treffen mit Abgeordneten und Mitgliedern der nationalen Parlamente.

Die Einsicht, die mich bei diesen Treffen und Reisen am meisten beeindruckt hat, ist die Tiefe und Neugierde in der intellektuellen Debatte über die europäische Zusammenarbeit, und diejenigen, die dabei an vorderster Front standen, waren vor allem meine deutschen Kollegen. Obwohl die Debatte über die europäische Zusammenarbeit in Schweden zugenommen hat, ist sie oberflächlicher und nicht so präsent wie in Deutschland. Dies macht sich nicht zuletzt in den Medien bemerkbar, sondern auch in den Gesprächen zwischen uns Politikern.

Aber jeder Mitgliedstaat hat seine eigene Geschichte und damit unterschiedliche Beziehungen zur Union. Wir werden weiterhin zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen kommen, alles andere wäre seltsam. Aber wir leben in einer Zeit, in der sich die Voraussetzungen schnell ändern. Ich habe kürzlich einen Podcast mit dem schwedischen EU-Botschafter Lars Danielsson gehört, in dem er gefragt wurde, was er als schwedische Herausforderung ansieht. Seine Antwort war, dazu beizutragen, das ‚Nein‘ in der schwedischen Debatte zu einem ‚Das ist das, was wir stattdessen wollen‘ umzuformen. 

Ein konstruktiver Ansatz ist nun mal die Voraussetzung für die Weiterentwicklung der weltweit erfolgreichsten regionalen Zusammenarbeit. Wir alle beziehen Kraft für unsere politische Arbeit aus den verschiedensten Quellen, aber ich für meinen Teil, wende mich oft an meinen Nachbarn im Süden, um dem ‚Europäischen Gedanken‘ in Schweden wieder Leben einzuhauchen.

Der Blick nach Norden – Daniel Behrendt schaut nach Schweden

Ein Berliner Immobilien-Startup wollte es im Jahre 2017 genauer wissen und erstellte den sog. „Familienindex International 2017“. „Welches sind weltweit die besten Städte zum Leben für Familien?“ Das Ergebnis finde ich hochspannend, denn wer möchte kein möglichst unbeschwertes Leben mit seiner Familie führen? Und eignet sich eine umfassende Familienpolitik nicht auch ideal als Andockpunkt für viele Menschen inner- und auch außerhalb unserer Partei?

Betrachtet man die Faktoren, die seitens des Startups für eine Bewertung der Familienfreundlichkeit herangezogen wurden, wird man feststellen, dass die unterschiedlichsten Politikbereiche Einfluss darauf haben. Das umfasst den Wohnraum, das Bildungssystem, Sicherheit, Bezahlbarkeit, Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung und Verkehr, aber auch das Gesundheitswesen, Naherholung, Aktivitäten für Kinder, kinderfreundlichen Einzelhandel und allgemein einfach – die Zufriedenheit.

Befragt wurden 30.000 Erziehungsexpert*innen und Journalist*innen weltweit, zusätzlich wurden die genannten Bereiche auf Basis vorliegender Daten analysiert. Was ist das Ergebnis? Stockholm liegt in dem internationalen Ranking auf Platz 4, übrigens dicht gefolgt von Hamburg auf Platz 5, München und Stuttgart finden sich auf den Plätzen 9 und 10, Berlin -deutlich abgeschlagen – auf Platz 26 von insgesamt 100 Metropolen der ganzen Welt.

Schaue ich mir die Bereiche an, in denen die deutsche und die schwedische Hauptstadt am weitesten voneinander entfernt sind, so liegen die Stärken Stockholms ganz klar in den Bereichen Sicherheit, Arbeitslosigkeit, Umweltverschmutzung, Kinderfreundlichkeit und Naherholung. Berlin wiederum hat in den Bereichen Bezahlbarkeit und Aktivitäten für Kinder die Nase vorn.

Ich wollte dies aber nicht einfach so hinnehmen und habe einige Videointerviews mit Familien durchgeführt, die sowohl in Schweden, als auch in Deutschland als Familie gelebt haben. Tatsächlich bestätigten diese die Einschätzung der Studie und machten die Ergebnisse mit ihren Worten noch greifbarer. Eine Mutter zweier Kinder, die beruflich bedingt mit ihrer Familie bereits in Stockholm, Berlin, aber auch in Peking lebte, beschrieb ihren Begriff von Familienfreundlichkeit so: „Wenn Du Dein achtjähriges Kind ohne Sorge mit U-Bahn und Bus zum Sport fahren lassen kannst, dann ist das echte Familienfreundlichkeit!“

Ihrer Beschreibung nach war dies bislang nur in Stockholm der Fall, wobei sie in dem Interview einräumte, dass es weniger die tatsächliche Sicherheitslage war, die sie dabei beeinflusste, sondern vielmehr ihr Gefühl von Sicherheit, also das sog. subjektive Sicherheitsempfinden. Ihrer Beschreibung nach waren es vor allem verschmutzte Gehwege, Sperrmüll an den Straßenbäumen, Urinpfützen in den U-Bahnzugängen, die ihr das Gefühl gaben – Nein. Hier lasse ich mein Kind nicht alleine zum Sport fahren.

Und genau da sehe ich großes Potenzial, zu untersuchen wo die Ursachen für das Erscheinungsbild unseres öffentlichen Raumes liegen – und sollten diese Ursachen auch in Schweden existieren, wieso diese dort nicht zum selben Ergebnis führen. Hier noch ein Beispiel aus dem Bereich der Gleichstellung, die letztlich auch auf die Familienfreundlichkeit einzahlt: 1965 wurde in Schweden die Vergewaltigung in der Ehe verboten, erst 32 Jahre später, im Jahre 1997, folgte Deutschland.

Bereits 1972 wurde in Schweden das Ehegattensplitting abgeschafft – die SPD forderte dies 39 Jahre später mit dem ‚Fortschrittsprogramm‘ von Januar 2011, scheitert jedoch bis heute am Unwillen des Koalitionspartners, 1974 wurde in Schweden die Elternzeit ins Leben gerufen. In Deutschland hat der damalige Bundesarbeitsminister Ehrenberg (SPD) erst 1979 den Mutterschaftsurlaub geschaffen, 1985 Familienminister Geissler (CDU) dann den Erziehungsurlaub und erst 2007 wurde das Erziehungsgeld durch das Elterngeld abgelöst.

Damit wurden auch die Rahmenbedingungen hergestellt, die Väter stärker mit einzubeziehen. Diese Auflistung könnte man insbesondere im Bereich der Gleichstellungspolitik über Seiten fortführen und würde schnell erkennen, dass es in Schweden auf jeden Fall genügend Potenzial gibt, welches auf deutsche Politik übertragen werden könnte und meines Erachtens auch übertragen werden sollte.

Fazit

Was hat das für Konsequenzen? Ganz gleich ob es darum geht, Modelle aus Schweden auf Deutschland zu übertragen oder umgekehrt – es muss immer geprüft werden, inwiefern auch gesellschaftliche Faktoren eine Rolle spielen und ob eine Adaption vor diesem Hintergrund eins zu eins möglich ist. Vieles wird übertragbar sein, manches bedarf aber sicher erst einer Transformation der Gesellschaft, die sicher einige Zeit in Anspruch nehmen dürfte – wenn sie überhaupt erfolgreich sein kann.

Aber das eine oder andere Ziel, sowohl in Deutschland als auch in Schweden, kann vielleicht schon durch eine Annäherung der Modelle erreicht werden. Für Projekte auf europäischer oder globaler Ebene sollten beide Staaten möglichst eng zusammenarbeiten oder tun dies ohnehin schon – für deren Umsetzung spielen die jeweils unterschiedlichen Gesellschaften Schwedens und Deutschland nur noch eine untergeordnete Rolle.

Was fest steht und positiv stimmt; sowohl Deutschland als auch Schweden sind sozialdemokratisch geprägt und die Mehrheit der Wähler steht links der Mitte. Es muss aktuell unser oberstes Ziel sein, diese Mehrheit in einer Regierungskoalition abzubilden und damit auch jenseits der sozialdemokratischen Parteien der schwedischen Regierung der Sozialdemokraten einen gleichgesinnten Partner an die Seite zu stellen.

Von Daniel Behrendt & Erik Ezelius (Freundeskreis deutscher und schwedischer Sozialdemokrat:innen)