Raul KrauthausenSPD Berlin

Raul Krauthausen im Interview: „Inklusion ist keine Checkliste zum Abhaken“

Der Aktivist Raul Krauthausen spricht im Interview mit der BERLINER STIMME über die Fortschritte, aber auch den Verbesserungsbedarf im Hinblick auf die Inklusion in Deutschland und die Herausforderungen im Zusammenleben zwischen Behinderten und Nichtbehinderten.

BERLINER STIMME: Lieber Herr Krauthausen, in dieser Ausgabe beschäftigen wir uns angesichts der Veränderungen durch Digitalisierung und Globalisierung mit den daraus resultierenden Schritten in der Sozialpolitik. Wie sehen Sie das?

RAUL KRAUTHAUSEN: Von der Globalisierung werden wir alle profitieren wie auch darunter leiden, zum Beispiel wenn sich Löhne aus verschiedenen Ländern angleichen müssen. Hingegen ist die Digitalisierung in Bezug auf Automatisierung nochmal ein anderes Thema, nämlich wenn einfache Arbeiten wegfallen werden.

Gerade für Menschen mit Behinderung soll durch Digitalisierung das Arbeiten leichter gemacht werden. Um ehrlich zu sein, ich bin da skeptisch. Sprachassistenten werden gerne als Paradebeispiel für Inklusion am Arbeitsplatz angeführt. Das sind in meinen Augen Nebelkerzen. Die wahren Herausforderungen liegen woanders.

Beispielsweise kann ich zwar ein Taxi per App bestellen, doch dieses ist dann nicht barrierefrei. Ein anderes Beispiel ist die bessere Verwaltung von Patientenakten mit einer Software, doch was verwalte ich? Verwalte ich im Interesse der Pflegenden, also, dass es noch effizienter wird, Behinderte zu verwalten oder benutze ich Digitalisierung, um das Leben von behinderten Menschen wirklich zu erleichtern?

Das ist das eigentliche Problem: wenn Digitalisierung immer nur unter den Nichtbehinderten diskutiert wird und behinderte Menschen nur als Argumentation angeführt werden, ohne dass jemand ein einziges Mal mit einem Behinderten gesprochen hat.

Doch gerade bei Überlegungen zur Sozialpolitik müssen Menschen mit Behinderung von vornherein einbezogen werden, nicht nur als Experten in eigener Sache, sondern auch als Experten von Wissen.

Bei der Veranstaltung „100 Jahre AWO“ haben Sie gesagt, dass die Wohlfahrt ein Teil des Problems ist. Da haben einige Gäste ganz schön geschluckt. Was meinten Sie damit?

Wenn man die Geschichte und die Idee der Wohlfahrt betrachtet, dann hat man in den 50er-Jahren sicherlich in der besten Absicht gehandelt, als man eine Struktur schuf, in welcher der Staat nicht die alleinige Verantwortung für soziale Aufgaben hat. Er stellt lediglich die Ressourcen zur Verfügung und beauftragt die Wohlfahrt diese zu betreiben, unter anderem Krankenhäuser oder Kindergärten.

Jedoch haben sich in den vergangenen Jahrzehnten die Wohlfahrtseinrichtungen in Form von Behindertenschulen, -werkstätten und -heimen verselbstständigt. So ist eine Art Parallelwirtschaft entstanden, deren einziges Interesse vor Allem der Selbsterhalt durch Auslastung ist. Sonst wären sie nicht rentabel.

Wenn ich am Ende aber dann nur noch darüber nachdenke, dass ich profitabel bleibe, verfehle ich meinen Auftrag – und der ist gerade bei Werkstätten, behinderte Menschen für den ersten Arbeitsmarkt fit zu machen. Doch wenn eine Werkstatt genau dies tut, zerstört sie ihr Geschäftsmodell.

Sie würde nämlich ihre besten Arbeiterinnen und Arbeiter abgeben und wäre gegenüber anderen Werkstätten nicht mehr konkurrenzfähig. So wachsen diese Werkstätten, indem sie Behinderte klein halten und sie nicht in den ersten Arbeitsmarkt überführen.

Wie sind wir in Bezug auf Inklusion in Deutschland aufgestellt?

Es gibt eine große Diskrepanz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung. Die Deutschen glauben, dass sie unheimlich inklusiv sind. Gleichzeitig werden Menschen mit Behinderung immer noch wie Außerirdische angeschaut, wenn sie mit der Bahn fahren wollen. Inklusion ist keine Check- oder Einkaufsliste, die man Abhaken kann.

Die Definition von Inklusion befindet sich im Fluss, in dem Sinne, dass wir heute darüber sprechen, wie Behinderte an unserer Gesellschaft teilhaben können. In zehn Jahren überlegen wir vielleicht, wie behinderte Menschen auch teilgeben können.

Das heißt, wie sie nicht nur einen Kinofilm schauen, sondern auch, wie wir es schaffen, dass behinderte Menschen in den Filmen mitspielen. Daher definiere ich Inklusion als Prozess der Annahme und Bewältigung von menschlicher Vielfalt.

„Menschen mit Behinderung werden immer noch wie Außerirdische angeschaut, wenn sie Bahn fahren wollen.“

Raul Krauthausen

Inwiefern müssten die Unterstützungsangebote für Menschen mit Behinderung verbessert werden?

Menschen mit Behinderung sollten nicht permanent als Kostenfaktor angesehen werden. Vielmehr sollten wir eine menschenrechtliche Perspektive haben, nämlich das Recht auf Teilhabe. Damit meine ich unter anderem funktionierende Aufzüge. Aber die Absurdität fängt bereits da an, wenn ich der Krankenkasse alle sechs Monate nachweisen muss, dass ich immer noch behindert bin.

Ein anderes Beispiel ist, dass Behinderte, die auf Assistenz angewiesen sind, nicht mehr als 25.000 Euro sparen dürfen. Alles was sie mehr verdienen oder sparen würden, zieht das Sozialamt wieder ein, denn „das Amt“ bezahlt ja die Assistenz. So sind Behinderte doppelt „bestraft“:

Sie müssen zum einen mit den täglichen Barrieren klar kommen und  zum anderen mit ihrem Vermögen herhalten, um die Barrieren zu beseitigen. Ein Millionär bekommt aber weiterhin Kindergeld, obwohl er reich genug ist. Der Fehler liegt im System. Wir treten permanent nach unten und nehmen es den Schwachen. Dies wird schon viel zu lange in diesem Land betrieben und das muss sich ändern.

Sie und andere AktivistInnen haben jüngst ein Gespräch mit dem Bundesgesundheitsminister geführt. Dabei ging es um seine Pläne zum Intensivpflegestärkungsgesetz. Was fordern Sie?

Jens Spahn plant in dem Gesetz, dass Menschen, die beatmet werden müssen, in Heime gezwungen werden können. Es wurde Missbrauch durch Pflegedienste entdeckt, die Menschen in Beatmung gehalten haben, obwohl diese davon hätten entwöhnt werden können. Um das zu unterbinden, möchte Spahn alle Beatmungspatienten nicht mehr zuhause, sondern in speziellen Einrichtungen unterbringen.

Damit schüttet er das Kind mit dem Bade aus, weil ganz viele Menschen, die eben nicht entwöhnt werden können, auch in diese Heime müssen. Dadurch widerspricht er so vielen Gesetzen, wie dem Recht auf Wohnform im Grundgesetz. Solange also nun in dem jetzigen Entwurf steht, dass behinderte Menschen gegen ihren Willen in Einrichtungen gezwungen werden können, solange werden wir protestieren.

„Durch permanente Begegnung werden wir früher oder später merken, dass Inklusion nichts Schlimmes ist.“

Raul Krauthausen

Was kritisieren Sie an der Sprache der Medien im Umgang mit Menschen mit Behinderung?

Wir gehen im Hinblick auf Sprache immer noch vom Defizit aus. Wir kompensieren es durch neue Worte und sagen nicht mehr Behinderung, sondern Handicap, anstatt die Tatsachen zu benennen, nämlich behinderter Mensch. Das Wort lässt offen, ob jemand behindert ist oder behindert wird.

Genau dieses Spannungsfeld sollten Medien abbilden: Es ist nicht nur meine Verantwortung, dass ich als Mensch mit meiner Behinderung klarkomme. Auch die Gesellschaft ist dafür verantwortlich, Behinderungen zu beseitigen, zum Beispiel kaputte Aufzüge oder fehlende Untertitel.

Genauso müssten Medien darauf achten, ob sie eine Behinderung nicht überdramatisch in die eine oder andere Richtung darstellen, also ob ein Behinderter das Sorgenkind ist, der an der Behinderung leidet – oder ob er der sogenannte Superkrüppel ist, der trotz seiner Behinderung tapfer sein Schicksal meistert.

Welche Herausforderungen stehen zukünftig im Zusammenleben zwischen Menschen mit Behinderung und nicht-behinderten Menschen noch an?

Wir müssen Begegnung schaffen. Ich spreche immer gern vom Mandat: Wer hat eigentlich das Mandat zu entscheiden, wer wo mitmachen darf? So gesehen stellen wir fest, dass wir eigentlich in vielen Bereichen Menschen zuhören, die gar kein Mandat haben. Inklusion ist wie eine S-Bahn-Fahrt: Viele Menschen fahren zur gleichen Zeit in die gleiche Richtung und ich als Fahrgast habe nicht das Mandat, zu bestimmen, wer mit mir im Waggon sein darf oder nicht.

Der Schaffner darf das entscheiden, doch nur, wenn ich keine Fahrkarte habe und niemanden verletze. Wenn man nun die Menschen eine Weile S-Bahn fahren lässt, dann gewöhnen sie sich aneinander. So ist es auch im wahren Leben: Durch permanente Begegnung werden wir früher oder später merken, dass Inklusion nichts Schlimmes ist.

Schon zu Ende? Hier geht es weiter mit interessanten Beiträgen aus der BERLINER STIMME.

Autor:in

Raul Krauthausen

Setzt sich seit 15 Jahren für die Rechte von Behinderten ein

Raul Krauthausen
Autor:in

Sebastian Thomas

Redakteur der BERLINER STIMME und des vorwärtsBERLIN