Sinem Taşan-Funke und Peter Maaß bilden die neue Doppelspitze der Berliner Jusos. Im Interview erzählen sie, warum sie für eine sozialistische Gesellschaft streiten, eine Große Koalition ablehnen und was sie im kommenden Wahlkampf vorhaben.
BERLINER STIMME: Liebe Sinem, lieber Peter, ihr seid das neue Führungsduo an der Spitze der Berliner Jusos: zwei unterschiedliche Menschen mit ganz unterschiedlichen Denkweisen – war es für Euch eigentlich schwierig, eine Doppelspitze zu bilden?
Sinem: Wir kannten uns schon vorher aus unserer Arbeit für den Juso-Landesverband. Gleichzeitig haben wir beide viel Erfahrung in unseren jeweiligen Kreisverbänden gesammelt. Ich komme aus Tempelhof-Schöneberg, Peter aus Berlin-Mitte. Irgendwann unterhielten wir uns mal über den Landesverband, also was wir gut finden oder was wir anders machen würden.
Wir merkten relativ schnell, dass wir sehr ähnlich ticken. Wir beide wollten weg von einem Jusos-Landesverband, der nur von Akademikerinnen und Akademikern besetzt ist. Uns ging es darum ein Zeichen zu setzen, nämlich, dass man das Amt der Vorsitzenden neben dem Job und einem Privatleben ausfüllen kann.
Außerdem gibt uns eine Doppelspitze die Möglichkeit, die Arbeit aufzuteilen, die man so allein gar nicht stemmen könnte – das fanden wir charmant. Natürlich sind auch unsere Biographien ganz unterschiedlich: So können wir auch eine gewisse Diversität an der Landesspitze abbilden.
Als Ort für euer Bewerbungsvideo als Doppelspitze hattet ihr euch das Märkische Viertel in Reinickendorf ausgesucht. Gerade dieser Teil Berlins ist nicht unbedingt als hipper Teil von Berlin bekannt. Warum habt ihr dennoch dort gedreht?
Peter: Politisch bin ich in Mitte aktiv, Sinem in Tempelhof-Schöneberg. Diese beiden Bezirke zeichnen sich mehr oder weniger durch eine Innenstadtlage aus. In dem Augenblick, als wir uns vornahmen, den Juso-Landesverband weiterzuentwickeln, änderte sich auch unsere Sichtweise: Wir wollten den gesamten Landesverband in den Blick nehmen.
Wir haben das Gefühl, dass oftmals bestimmte Bereiche weder diskutiert noch in irgendeiner Art und Weise repräsentiert werden. Es gibt eben nicht nur Berlin-Mitte, das sozial hip ist. Es gibt auch Marzahn-Hellersdorf, es gibt das Märkische Viertel in Reinickendorf und viele weitere mehr – Stadtteile, Bezirke, die direkt vor unserer Haustür liegen und ein großes Potenzial aufweisen.
Das Märkische Viertel war mal ein Vorzeigegebiet für viele Menschen, jedoch wurde es danach nie weiterentwickelt. Das zeigt sich gut im Hinblick auf die Mobilität: Das Märkische Viertel ist bis heute nicht gut an das Nahverkehrsnetz angeschlossen. Ähnlich sieht es an anderen Punkten in Berlin aus. Wenn in Zukunft neue Stadtteile entstehen, müssen wir darauf achten, dass diese ganzheitlich mitgedacht werden.
So wollen Sinem und ich auch Politik machen: ganzheitlich für Berlin. Genau das war der Aufhänger für den Videodreh im Märkischen Viertel. Darüber hinaus hat Sinem einen familiären Bezug zu diesem Ort. Ich bin aufgrund meiner Ausbildung mittlerweile zweimal in der Woche im Märkischen Viertel unterwegs.
Sinem: Wir wohnen beide relativ zentral und haben anderthalb Stunden dorthin gebraucht. Das sagt schon alles. Wir müssen uns mehr um die Probleme vor Ort kümmern. Gerade für das Märkische Viertel sind das Kinderarmut und die Erwerbslosigkeit. Beide sind wesentlich höher als in anderen Quartieren in Berlin. Daher müssen wir aufhören, nur die Innenstadt zu sehen.
Das gilt für uns Jusos genauso wie für die gesamte Berliner SPD. Knapp die Hälfte der Kinder, die im Märkischen Viertel geboren werden, sind „People of Color“. Sie sind nicht weiß. Diese Kinder haben eine ganz andere Realität als die Studierenden im Prenzlauer Berg. Das sollte unser Bewerbungsvideo abbilden. Die Menschen vor Ort sollen einfach merken, dass wir ihre Probleme ernst nehmen.
In euren Bewerbungsreden habt ihr davon gesprochen, dass ihr eine linke SPD wollt, die mit euch für eine sozialistische Gesellschaft kämpft. Mal weg von der Theorie, hin zur Praxis: Wie kann das in euren Augen für Berlin konkret aussehen?
Sinem: Willy Brandt hat den bekannten Satz geprägt: Mehr Demokratie wagen. Wenn wir diesen Satz auf die Gesellschaft übertragen, müssen wir uns in gleichem Maße auch über die Demokratisierung der Wirtschaft unterhalten. Genau dies ist bis heute nicht geschehen. Da gibt es nach wie vor ein sehr hierarchisches System, wer den Kurs bestimmt, wie und was produziert wird und wer am Ende Profite einheimst.
Mittlerweile gibt es Möglichkeiten, wie man nachhaltiger und eben demokratischer wirtschaften kann. Ein gutes Beispiel ist ein genossenschaftlich organisiertes Unternehmen. Es gibt viele erfolgreiche Firmen, in denen die Entscheidungen darüber, wohin sich das Unternehmen in Zukunft entwickeln soll, von allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gemeinschaft- beziehungsweise mehrheitlich getragen wird. Das ist eine Sache, die man den Menschen auch gut am Wahlstand erklären kann. Wir fördern solche Modelle, damit die Demokratiedefizite in diesen Bereich abnehmen.
Peter: Wir reden immer über Utopien. Doch ganz zu Anfang sollten wir uns überlegen, wie wir diese Gesellschaft im Kleinen ein Stück weit so verändern, dass wir eine große Wirkung für unser gesamtes Miteinander erzielen. Nehmen wir die Arbeitszeitverkürzung: Diese Diskussionen haben wir bereits konkret seit den späten 70er-Jahren bei gewerkschaftlich orientierten Unternehmen.
Die Frage ist immer, wie viel Arbeitszeit in der Woche wollen und sind wir auch bereit, zu geben? Viele meiner Freundinnen und Freunde, viele junge Menschen meiner Generation hinterfragen das, was sie tun. Sie wollen einen Sinn darin sehen. Genauso möchten sie in ihrem Leben nicht nur arbeiten, sondern in ihrer Freizeit sinnvolle Dinge tun, die für die Gesellschaft oder auch nur für sie einen Mehrwert haben.
Das ist die vielzitierte Work-Life-Balance. Da schlägt es auch gerade um, nämlich weniger zu arbeiten und dafür mehr Zeit für sich selbst, Familie und Freundinnen und Freunde zu haben. Das ist ein ganz wichtiger Punkt, der eine Gesellschaft verändern könnte.
Sinem: Eine Frage, die wir Jusos uns auch bei der vergangenen Landesdelegiertenkonferenz (oberstes Beschlussorgan der Berliner SPD-Jugendorganisation; Anm. d. Red.) gestellt haben, ist die, wer eigentlich für die aus der Corona-Krise entstandenen Schulden bezahlt. Schnell wurde klar, dass wir das zum Anlass nehmen, um mal über eine Vermögensabgabe für Reiche nachzudenken, wie es zum Beispiel auch Saskia Esken vorschlägt.
Das ist ein ganz konkreter Punkt, durch den wir als SPD die Umverteilung wieder in den Fokus rücken. Dadurch können wir den Menschen erklären, dass mit uns eine andere Gesellschaft tatsächlich machbar ist. Das daraus gewonnene Geld könnten wir nutzen, um beispielsweise Chancengleichheit auf allen möglichen Ebenen herzustellen. Wir müssen nur wieder besser darin werden, den Leuten zu erklären, dass es keine Maßnahmen sind, die wir uns zufällig erdenken, sondern wir eine andere Gesellschaftsvision verfolgen.
Als neue Juso-Doppelspitze habt ihr jetzt zwei Jahre Zeit. Was möchtet ihr konkret anpacken?
Sinem: Der Wahlkampf im kommenden Jahr zu den Abgeordnetenhauswahlen ist das erste große Projekt. Da tragen wir bereits Ideen zusammen und wollen im Anschluss Forderungen für das Wahlprogramm formulieren. In diesen Prozess bringen wir uns laut und konstruktiv ein.
Wir möchten den Kurs dafür setzen, dass es mit Rot-Rot-Grün weitergeht. Im nächsten Jahr werden zwei Fragen über allem schweben, nämlich: Was gehört eigentlich in das Wahlprogramm und wie stellen wir uns die Stadt in zehn Jahren vor?
Auslaufmodell GroKo, bewährtes Modell Rot-Rot-Grün: Führt Ihr damit auch ein wenig Annikas Kampf gegen eine Große Koalition fort?
Peter: Die Ablehnung von bestimmten Bündnissen richtet sich nicht nach den Farben der Parteien, sondern an den Inhalten aus, die mit diesen Parteien zu machen sind. An dieser Stelle müssen wir ganz klar feststellen, dass mit CDU/CSU auf Bundesebene wichtige sozialpolitische Maßnahmen beziehungsweise Reformen jetzt und in Zukunft nicht auf den Weg gebracht werden können.
Das sehen wir ganz deutlich an dem Hickhack, das sich um die Frage dreht, wieviel Rente Menschen nach dem Erwerbsleben haben sollen. Ein anderes Beispiel ist die Reform von Hartz IV. Solche wichtigen politischen Ideen sind mit der CDU nicht zu machen. In Berlin sehen wir ja auch sehr anschaulich, was mit der Rot-Schwarzen Koalition nicht möglich war.
Da wurden Fragen der inneren Sicherheit auf den Schultern von den Bürgerinnen und Bürger ausgetragen und keiner der Verantwortlichen setzte sich zielgerichtet für eine liberale Gesellschaft ein oder eine gute Wohnungs- und Mietenpolitik. Das überließ man dem privaten Sektor und suchte weniger den sozialen Ausgleich der Mieterinnen und Mieter dieser Stadt.
Oder nehmen wir Fragen von Repräsentanz. Alles, was wir für eine offene Gesellschaft wollen und brauchen, ging in den vergangenen viereinhalb Jahren mit Rot-Rot-Grün voran. Durch das Antidiskriminierungsgesetz werden die Berlinerinnen und Berliner besser vor Diskriminierung und Willkür durch Polizei oder anderer Behörden geschützt.
Die Bildung ist fast kostenfrei. BVG-Tickets für Schülerinnen und Schüler sind kostenfrei. Das sind wirkliche sozialpolitische Meilensteine von Rot-Rot-Grün. Hingegen zielt die CDU auf die Wirtschaft und die privaten Interessen der großen Privatfirmen ab.
Ich habe bei den Christdemokratinnen und -demokraten immer das Gefühl, dass sie die Interessen ihrer alten und weißen Klientel absichern will und weniger die der Stadtgesellschaft, die hingegen bunt und vielfältig ist.
Sinem: Als Juso-Verband eint uns die Ablehnung der Großen Koalition. Das gilt für die Landesebene umso mehr, gerade weil wir die Erfolge mit Rot-Rot-Grün sehen. Im Bund bedeutet eine Koalition mit CDU und CSU seit vielen Jahren einfach Stillstand. Die Konservativen, allen voran Horst Seehofer, verhindern gerade eine Studie zu Racial Profiling.
Das zeigt einfach, dass die Christdemokratinnen und -demokraten ein anderes Bild von der Gesellschaft haben als wir. Wir wollen gestalten, unsere Vorhaben voranbringen. Das funktioniert weitere vier Jahren im Bund mit der Union einfach nicht. Das merken auch die Bürgerinnen und Bürger, die es mittlerweile auch satthaben.
Was wünscht Ihr euch für den kommenden Berliner Wahlkampf?
Sinem: Wir wünschen uns vor allem einen starken inhaltlichen Wahlkampf und dass die SPD Berlin eine Vision hat, wie diese Stadt in zehn Jahren aussehen soll. Klar werden wir wahrscheinlich eine Spitzenkandidatin haben, die ihren Raum bekommen soll. Das ist auch gut so. Die Leute müssen wissen, was sie erhalten, wenn sie SPD wählen.
Die zentrale Frage ist, wem gehört die Stadt? Daraus ergibt sich ein ganzer Fragenkatalog, nämlich: wer kann sich in der Stadt wie bewegen? Wollen wir die Stadt weiterhin auf Autofahrerinnen und Autofahrer ausrichten? Oder wollen wir klar in den ÖPNV investieren? Wollen wir Gebiete in dieser Stadt, die vom Rest noch ziemlich abgekapselt sind, anschließen?
Wollen wir das U-Bahn-Netz ausbauen und Geld für die Zukunft dieser Stadt in die Hand nehmen? Eine weitere, wichtige Angelegenheit ist der Bereich der inneren Sicherheit. An dieser Stelle grenzen wir uns auch klar zu konservativen Kräften in Berlin ab. Klar ist ein subjektives Sicherheitsgefühl wichtig für die Menschen.
Das wollen wir auch nicht negieren. Was jedoch auf keinen Fall passieren darf ist, dass wir einem konservativen Zeitgeist hinterherlaufen. Ich möchte keine Law-and-Order-Politik, sondern das liberale Stadtbild von Berlin erhalten. Wir wollen, dass genau diese Forderung auch so im SPD-Wahlprogramm steht.
Peter: Die SPD hatte schon immer den Anspruch, Dinge zu verbessern, zu verändern, einen Modernisierungsschub für die Gesellschaft zu leisten. Genau jetzt stellen wir die Weichen für eine Zukunft, in der Berlin weiterhin der Platz für alle Menschen sein kann. Das zeichnet die Stadt aus. Wer frei leben möchte, kommt in die Hauptstadt.
Genau das soll auch in Zukunft möglich sein. Das ist die Aufgabe der SPD. Meiner Meinung nach sollten wir uns auch mal darüber unterhalten, was in den vergangenen zehn Jahre nicht gut gelaufen ist. Damit macht man ungern Wahlkampf. Dennoch sollten wir uns schon fragen, woraus wir unsere Lehren ziehen. Was lief nicht so gut und wie können wir es in Zukunft besser machen.
Dazu gehört das klare Bekenntnis, dass die Zeit der Privatisierung unserer öffentlichen Daseinsversorgung endgültig vorbei ist. Wir brauchen einen handlungsfähigen Staat, der dafür sorgt, dass alle Menschen am öffentlichen Leben teilnehmen können. Das bedeutet auch, das Sicherheitsgefühl aller Menschen zu erhöhen.
Es ist beschämend, dass Rechtsextremismus immer noch ein akutes Problem ist und nicht-weiße Menschen oder Andersgläubige offen angegriffen werden und in Angst leben. Das dürfen wir nicht hinnehmen und müssen entschieden einschreiten! Bei meinem Herzensthema Bildung müssen wir garantieren, daß alle Kinder gut lernen können.
Damit verbunden ist der Status Berlins als Wissenschafts-, als Innovationsstandort. Da haben wir viel Potenzial. Es gelingt jedoch nur, wenn der Staat die richtigen Rahmenbedingungen setzt, wie zum Beispiel eine kostenfreie Kita oder einen ÖPNV, den sich alle leisten können.
Berlin soll sich nicht wie andere Großstädte entwickeln, in deren Stadtkern nur noch große Unternehmen und ein paar Superreiche Platz finden, die ihre Wohnung über das Jahr leer stehen lassen und vielleicht nur in den warmen Monaten mal vorbeischauen. Nein, es ist gerade die soziale Durchmischung, die Berlin ausmacht und diese muss um jeden Preis erhalten bleiben.
Zum Stichwort „bauen“ noch ein Satz: wir müssen aufpassen, dass Berlin im Sommer nicht zur Steppe wird. Gerade bei heißen Temperaturen sollen die Menschen nicht fluchtartig die Stadt verlassen müssen. Dementsprechend muss es weiterhin Grünflächen geben. Die Häuser müssen gut isoliert sein, Wärme speichern und abgeben. Im Großen und Ganzen soll Berlin ein Sehnsuchtsort bleiben. Dazu muss die SPD ihren Beitrag leisten, wenn sie weiterbestehen will.
Sinem: Eine Sache, die ich noch ergänzen möchte, ist die Armutsbekämpfung. Gerade die SPD muss die Partei sein und auch bleiben, der die Kompetenz zur Lösung dieses Problems zugeschrieben wird. Da wünsche ich mir, dass wir die Zahl der Arbeitslosen weiter minimieren. Was speziell die Langzeitarbeitslosen betrifft, haben wir beispielsweise in der vergangenen Legislatur erstmals das solidarische Grundeinkommen eingeführt.
Diese Stadt braucht Antworten, wie sie mit Menschen umgeht, die auf dem ersten Arbeitsmarkt als nicht vermittelbar gelten. Wir müssen Lösungen finden, wie wir sie aus dieser Situation herausholen können. Gleiches gilt für Obdachlosigkeit. Das ist auch ein Thema, was in den vergangenen Jahren leider massiv an Bedeutung gewonnen hat. Da brauchen wir gute Konzepte und müssen armen Menschen den Weg in ein besseres, selbstbestimmtes Leben aufzeigen.
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