Gleichstellungssenatorin Dilek Kalayci spricht im Interview über Frauen in systemrelevanten Berufen und Führungspositionen
BERLINER STIMME: Ob nun als Pflegekraft, medizinische Fachkraft, Erzieherin oder Kassiererin: Frauen schultern in der Corona-Pandemie in systemrelevanten Berufen den größten Anteil der Lasten: Liebe Dilek, glaubst du, dass durch die Krise genannte Berufe aufgewertet werden/wurden und warum?
Dilek Kalayci: Durch die Corona-Pandemie hat sich erneut die enorme Bedeutung systemrelevanter Berufe gezeigt, die zu einem großen Teil von Frauen geleistet werden. Gerade die SAGHE-Berufe, also Soziale Arbeit, Gesundheit, Hauswirtschaft und Erziehung, gewährleisten eine Fortführung unabdingbarer gesellschaftlicher Abläufe.
Um dieser Leistung gerecht zu werden, braucht es nicht nur Applaus, sondern eine Aufwertung dieser Berufe. Auch vor der Corona-Pandemie hat sich Berlin für eine solche Aufwertung stark gemacht. Die Kampagne ‚Pakt für Pflege‘, die von der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung ins Leben gerufen wurde, hat die Aufwertung von Pflegeberufen zum Ziel.
Die Unterzeichnenden sind zahlreiche Verantwortliche aus der Pflege- und Gesundheitsbranche, die sich zu konkreten Handlungsschritten zur Verbesserung der Arbeitssituation in der Pflege verpflichten. Konkret in den Bereichen bedarfsgerechter Ausbau der Ausbildung, bessere Vergütung in der Altenpflege und in den Krankenhäusern.
Zusätzlich dazu strebt Berlin eine deutliche Aufstockung des Pflegepersonals an. Bundesweit wurde die Ausbildungsoffensive in der Pflege gestartet, die die notwendig gewordene Umstrukturierung und die Verdopplung der Ausbildungszahlen aus dem Pakt für Pflege vorantreibt.
Zudem hat die Tarifgemeinschaft der Länder (TdL), in der Berlin ein Mitglied ist, den Sozial- und Erziehungsdienst deutlich aufgewertet: die Einkommen von Erzieherinnen und Erziehern sowie Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen wurden ab 2020 grundsätzlich verbessert. Obwohl damit schon wichtige Schritte getan wurden, müssen weitere Maßnahmen folgen, die die Aufwertung systemrelevanter Berufe vorantreibt.
Anfang dieses Jahres beschloss die Bundesregierung eine Frauenquote in Unternehmensvorständen. Wie sieht es im Vergleich mit den Frauen in Führungspositionen im öffentlichen Dienst des Landes Berlin aus?
In der öffentlichen Verwaltung hat das Landesgleichstellungsgesetz (LGG) Früchte getragen: In den obersten Landesbehörden zum Beispiel stieg der Frauenanteil innerhalb der vergangenen 20 Jahre in den Referatsleitungen von 17 auf 47 Prozent und in den Abteilungsleitungen von 10 auf 44 Prozent. Seit der LGG-Novelle 2010 gilt das LGG auch für die Berliner Landesunternehmen.
In Anstalten des öffentlichen Rechts und Beteiligungsunternehmen konnte Berlin den Frauenanteil der von Berlin zu besetzenden Mitglieder in den Aufsichtsräten auf 53 Prozent steigern, und bei den Vorstands- und Geschäftsleitungspositionen sind inzwischen knapp 39 Prozent erreicht worden.
Das ist eine insgesamt sehr erfreuliche Entwicklung. Im Vergleich mit den Zahlen im Bund steht das Land Berlin, besonders bei den Geschäftsführungs- beziehungsweise Vorstandspositionen sehr gut da. Während im Bund nur 15,2 Prozent der Stellen mit Frauen besetzt sind, sind es in Berlin 41,5 Prozent.
Wie können oder besser: sollten Berliner Unternehmen zu einer besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf beitragen?
Die Träger der Kampagne „Gleichstellung gewinnt“, also die Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung gemeinsam mit der Handwerkskammer Berlin und der IHK Berlin, stehen auf dem Standpunkt: wir haben in der Berliner Wirtschaft gut bewährte Lösungsstrategien und immer neue innovative Vorbilder – für kleine Betriebe, für große Unternehmen, ob in der IT-Branche oder in einem klassischen Handwerk.
Unbestritten ist, dass manche Unternehmen dafür weniger Gestaltungsspielraum haben als andere. Das kann finanzielle oder zeitliche Gründe haben und an den besonderen Anforderungen der Branche selbst liegen. Was wir brauchen, sind mehr Unternehmen, die die Vereinbarkeit wirklich zu ihrer Sache machen und die passende Lösung für sich selbst entwickeln, sprich: einen Kulturwandel.
Im Umzugsgewerbe lassen sich lange Einsatzzeiten auch am Wochenende nicht vermeiden, Handwerksbetriebe müssen sich immer wieder nach den Zeitwünschen von Kundinnen und Kunden richten. Wenn Unternehmen offen darüber reden, wie die besonderen Belastungen und Bedarfe junger Väter, von Müttern mit langen Arbeitswegen oder pflegender Angehöriger besser mitgedacht werden können, finden sich immer Wege, das auch umzusetzen. Und genau dafür stehen die Unternehmen, die unsere Charta unterzeichnet haben.
Männer arbeiten weniger, Frauen hingegen erhöhen ihre Arbeitszeit – und beide teilen sich bezahlte Arbeitszeit und die unbezahlte Haushalts- und Familienzeit besser auf: Kann dieses Arbeitszeitmodell eine Alternative sein und Geschlechtergerechtigkeit fördern?
Das ist natürlich das ideale Ziel, was wir anstreben, um tatsächliche Gleichstellung zu erreichen. Zunächst einmal müssen Erwerbs- und Sorgearbeit zusammengedacht werden. Auf Sorgearbeit, also Tätigkeiten wie die Pflege, Versorgung und Zuwendung für sich und andere, ist jede Gesellschaft angewiesen.
Dennoch wird sie meist abgewertet und ökonomisch unsichtbar gemacht. Der sogenannte Gender Care Gap liegt bei 52 Prozent – das bedeutet, Frauen leisten täglich um die Hälfte mehr unbezahlte Sorgearbeit als Männer. Wenn Kinder da sind, verstärkt sich dieser Effekt. Die ungleiche Verteilung der Sorgearbeit zu Lasten von Frauen wirkt sich meist nachteilig auf ihre Erwerbstätigkeit aus.
Sie arbeiten häufiger in Teilzeit, sie verdienen im Durchschnitt 20 Prozent weniger als Männer – Gender Pay Gap – und haben dadurch ein 53 Prozent niedrigeres Alterseinkommen – Gender Pension Gap. Sorgearbeit muss als eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe anerkannt werden. Solange die Zuständigkeit für Sorgearbeit Frauen zugeschrieben wird und keine Aufwertung erfährt, kann die tatsächliche Gleichstellung nicht erreicht werden.
Deshalb machen wir uns für eine „Familienarbeitszeit“ stark: Alle Geschlechter reduzieren ihre Erwerbsarbeit, teilen sich die Sorgearbeit zu gleichen Teilen und erhalten dabei staatliche Unterstützung. Denn eine gerechte Verteilung und faire Entlohnung von Sorgearbeit ist eine Frage der Gleichstellung.
Welche Hilfe bietet das Land Berlin Frauen an, die von Gewalt betroffen sind, vor allem von Mobbing am Arbeitsplatz?
In Berlin gibt es ein engmaschiges Netz von Hilfeangeboten wie Frauenhäusern, Beratungsstellen und Zufluchtswohnungen. Insgesamt hält Berlin 973 Schutzplätze vor. Diese befinden sich in sieben Frauenhäusern, 46 Zufluchtswohnungen, 46 Zweite-Stufe-Wohnungen und Notschutzplätzen.
2021 wird ein achtes Frauenhaus in Berlin eröffnet. Die Vorbereitungen für die Schutzeinrichtung mit ebenfalls 55 Plätzen laufen unter Hochdruck weiter. Durch den Umzug eines bestehenden Frauenhauses in eine größere Immobilie werden in 2021 weitere 15 Plätze gewonnen. Die Anzahl an Zufluchtswohnungen und Zweite-Stufe-Wohnungen soll sukzessive erhöht werden.
Es geht uns beim Ausbau der Schutzplätze nicht nur um die Quantität, sondern auch um die Qualität: Wir werden besondere Bedarfe – wie zum Beispiel die von Frauen mit Beeinträchtigungen – barrierefreie Plätze – oder Frauen mit psychischen Beeinträchtigungen sowie für Mütter mit älteren Söhnen berücksichtigen.
Zum Thema Mobbing bietet beispielsweise der Verein „Raupe und Schmetterling – Frauen in der Lebensmitte e.V.“ eine Beratung an. Dieser Verein wird durch mein Haus finanziert. Der Senat misst also der Weiterentwicklung des Berliner Hilfesystems für gewaltbetroffene Frauen und dem Ausbau von Schutzplätzen eine große Bedeutung zu.
Schon zu Ende? Das muss nicht sein. Hier geht es weiter mit interessanten Beiträgen aus der BERLINER STIMME.