Janin, Überlebend des Attentats auf UtøyaSPD Berlin/Sebastian Thomas

Anschlag auf Utøya: „Wir müssen hier raus“

Janin wächst ab ihrem zweiten Lebensjahr in Norwegen auf. Im Sommer 2011 passiert etwas, was ihr Leben für immer verändert: 69 Menschen werden auf der norwegischen Insel Utøya von einem Attentäter getötet. Janin ist zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt – und mitten auf der Insel.

Es ist ein warmer Tag im August dieses Jahres. Janin, 24 Jahre alt, hat heute frei. Der Ort des Gesprächs ist eine Promenade direkt an der Spree. Familien mit Kindern spielen auf einer nahegelegenen Wiese, Jugendliche tummeln sich am Wasser, Spaziergänger lassen den Blick über die Spree schweifen. Mit fester Stimme beginnt Janin zu erzählen. Es geht neun Jahre zurück in die Vergangenheit – zum 22. Juli 2011.

Halden ist eine Stadt nahe der schwedischen Grenze am südlichen Zipfel von Norwegen. Hier wohnt Janin zusammen mit ihrer Familie. In dem Ort lebt auch ihre beste Freundin Elisabeth. Im Juli 2011 hat genau diese Freundin eine Idee.

Janin: Elisabeth hatte mir von der AUF (Jugendorganisation der sozialdemokratischen Arbeiderpartiet, Arbeidernes Ungdomsfylking; Anm. d. Red.) erzählt. Ihre Schwester hatte sie dazu überredet, sich bei dem Sommercamp der Jugendorganisation anzumelden. Elisabeth fragte mich anschließend, ob ich nicht auch mitkommen möchte.

Während des Gesprächs merkt man Janin sofort an: Ihre Freundin war etwas Besonderes. Auf die Frage, was Elisabeth ausgemacht hat, antwortet die heute 24-Jährige, ohne zu zögern.

Janin: Elisabeth war ein Mensch, der sich immer um andere gekümmert hatte und jederzeit ein offenes Ohr hatte. Sie stellte stets sicher, dass es ihren Freunden und ihrer Familie gut ging. Ihre eigenen Bedürfnisse stellte sie dann meistens hinten an. Durch ihre Lebensfreude und ihre positive Art konnte man nur gute Laune bekommen.

Elisabeths Schwester war 2010 schon beim Sommercamp gewesen und auch Elisabeth selbst wollte dieses Jahr teilnehmen. Da noch Plätze frei waren, meinte sie: „Komm doch mit“. Ich war anfangs sehr skeptisch. Später dachte ich, ausprobieren kann man es und mit Freunden wird es dann schon eine lustige Zeit – also bin ich mitgefahren.

Elisabeths Vater hat uns am 19. Juli von Halden nach Sarpsborg gefahren. Von dort ging es mit dem Shuttlebus nach Utøya. So bin ich auf die Insel gekommen.

Der 22. Juli 2011 ist für Janin und Elisabeth der letzte Tag auf der Insel – am nächsten Tag steht die Heimreise an. Die Tage zuvor seien laut Janin sehr warm gewesen. Die Sonne schien die ganze Zeit. Überhaupt sei der Sommer in Norwegen im Jahr 2011 sehr heiß gewesen, teilweise bis zu 30 Grad Celsius. An diesem Freitag jedoch regnet es. Janin beschreibt es im Gespräch als Vorahnung, als ein Vorbote, dass irgendwas passieren wird. Doch am Anfang beginnt der Tag ganz normal.

Janin: Das allmorgendliche Ritual war, dass wir uns alle zusammen in einer großen Halle zum Frühstück getroffen haben. Das gesamte Gebäude war so eine Art Cafeteria. Sie besteht aus einer kleinen und großen Halle, einem Speisesaal und noch vielen anderen kleinen Räumen, zum Beispiel einem Kühlraum. Wir frühstückten entweder drinnen oder draußen vor dem Speisesaal.

Da befinden sich Bänke und Tische. An dem Gebäude war ein Plan angebracht. Auf diesem stand, was an diesem Tag stattfindet. Das war alles über die Woche verteilt. Man traf sich zu politischen Debatten über ein bestimmtes Thema. Ab und zu kamen Politikerinnen und Politiker für einen Tagesbesuch auf die Insel und nahmen an den Debatten teil.

Und einen Abend trafen wir uns zum Karaoke singen. Ich war hauptsächlich nicht wegen den politischen Diskussionen da, sondern einfach, weil wir zusammen gegrillt, Stockbrot gebacken und Karaoke- sowie Filmabende gemacht haben. Ich fand diese Gemeinschaft einfach toll.

Wir schauten später an diesem Tag bei einem Fußballturnier zu. Das war auch sehr spannend. Danach wollten wir eigentlich Waffeln essen und am Ende des Tages zu einem Disko-Abend gehen. Dazu kam es nicht mehr. Wir haben dann noch die Insel erkundet. Da es unser letzter Tag auf Utøya war, wollten wir noch ein bisschen entspannen und baden gehen. In der Zwischenzeit hatte es jedoch geregnet und so fiel baden aus.

Während auf der Insel Utøya das Sommercamp der AUF im vollen Gang ist, kommt es in der norwegischen Hauptstadt zur Katastrophe: Um 15.26 Uhr explodiert im Regierungsviertel ein mehrere hundert Kilogramm schwerer Sprengsatz. Die Bombe detoniert in einem Lieferwagen. Dieser parkt direkt vor dem 17-stöckigen Hauptsitz der Regierung. Neun Menschen sterben, zehn weitere werden verletzt.

Janin: Ich saß zu diesem Zeitpunkt im Zelt, wir spielten „Mensch ärgere dich nicht“. Dabei merkten wir, dass irgendetwas draußen auf dem Zeltplatz passiert. Wir vernahmen ganz aufgeregte Stimmen, die Leute sind umher gerannt. Wir sind schließlich aus dem Zelt gekrochen und haben gefragt, was los ist und warum alle so aufgebracht sind?

Dann hieß es, eine Bombe sei in Oslo explodiert. Ich dachte zuerst an eine Gasexplosion. Man denkt ja nicht sofort daran, dass da irgendwer eine Bombe legt. Mein Papa hatte zu dem Zeitpunkt eine Baustelle in Oslo und Elisabeths Vater ist ein Lastwagenfahrer, der in und um Oslo Lieferungen ausfuhr.

Janin, Überlebende des Anschlags auf Utøya
„Dann hörte ich diese Schritte“ – Janin, Überlebende des Anschlags von Utøya

Wir beide wollten erst mal sichergehen, dass es unseren Vätern gutgeht. Elisabeth ist in die Cafeteria gegangen, weil sie ihr Handy aufladen musste. Mein Telefon hatte noch Akku. Ich rief meinen Papa an und er sagte mir, dass es ihm gut geht und er mittlerweile auf dem Weg nach Hause ist. Danach lief ich zu Elisabeth in die Cafeteria.

Ich wollte natürlich wissen, ob auch mit ihrer Familie alles in Ordnung ist. Als ich ankam telefonierte sie noch. Elisabeth zeigte mir den Daumen nach oben, um mir zu signalisieren, dass ihrem Vater auch nichts passiert ist. Als sie ihre Schwester durch das Fenster auf dem Zeltplatz sah machte sie dieselbe Geste in ihre Richtung.

Es ist kurz vor 17 Uhr als der Attentäter an der Anlegestelle der Fähre mit einem weißen Lieferwagen vorfährt. 600 Meter trennen Utøya vom Festland. Mit der Fähre gelangt er wenig später auf die Insel. Da er sich als Polizist ausgibt und auch als solcher verkleidet ist, nimmt ihn der Fährmann mit. Auf Utøya angelangt geht er von Bord. Ab jetzt vergehen fast zwei Stunden bis zum Eintreffen der Polizei und den Rettungskräften. Janin steht zu diesem Zeitpunkt noch in der Cafeteria.

Janin: Auf einmal gab so ein komisches Geräusch, wie so ein lautes Feuerwerk. Es war nur ganz kurz. Ich dachte mir nur, wer ist denn jetzt so blöd und macht Party, während alle anderen besorgt ihre Familien anrufen. Ich war schon ein wenig wütend. Ich ging von der großen in die kleine Halle zurück, weil ich schauen wollte, wo diese Geräusche herkommen.

Er zielte auf etwas – ich konnte nicht sehen wohin

Als ich in der kleinen Halle ankam, trat ich an das Fenster und schaute hinaus. Um mich herum standen ganz viele Leute. Auch sie schauten nach draußen. Dann hieß es, es wäre ein Polizist auf die Insel gekommen. Wir sollen uns keine Sorgen machen, er käme aus Oslo und er würde uns nur informieren wollen.

Wir wussten zu diesem Zeitpunkt, dass das Regierungsviertel und ebenso unsere Partei von der Detonation betroffen war. Ich und die Leute fragten sich, was ist, wenn jemand uns angreifen möchte? Vielleicht war der Beamte nur da, um uns zu beschützen. Einen Moment später sah ich einen Polizisten, der auf dem langen Weg vom Steg hoch Richtung Zeltplatz ging.

Der Mann zielte auf irgendwas, ich konnte jedoch nicht sehen wohin. Dann schoss er. Nachdem ich das gesehen hatte, ging sofort eine Alarmglocke in mir an. Ich wusste sofort, dass hier irgendetwas gewaltig falsch lief. In mir ging wie eine Alarmglocke an.

Plötzlich ist das Realität

Lejla, eine Freundin von Elisabeth und mir, ist dann rausgegangen. Sie meinte noch: „Ich frage ihn, was er hier will“. Sie sprach ihn an, ich konnte aber nicht verstehen, was sie sagt. Er hörte ihr kurz zu, hob dann die Waffe und schoss ihr in den Kopf. Ich sah alles mit an und mein Körper war anschließend wie paralysiert.

Ich hatte das Gefühl, dass ich in einem Actionfilm bin, der plötzlich Realität wird. Den Leuten um mich herum ging es ähnlich. Ich dachte nur: Was passiert hier gerade, was ist los? Irgendwas läuft schief. Lejla hat sich nicht mehr geregt. Ich dachte noch so, vielleicht schauspielert sie. Man hat so ganz komische Gedanken in so einer Situation, weil man nicht wahrhaben möchte, was da gerade passiert.

Er kam schließlich in diese Halle hinein und fing wild an um sich zu schießen. Um mich herum sind viele, viele Menschen getroffen worden. Manche versuchten sich hinter dem Klavier in Sicherheit zu bringen, sich zu verstecken. Andere sprangen durch die Fenster, wollten einfach irgendwie raus.

Ich bin einfach nur durch den Gang gerannt, der die kleine mit der große Halle verband. Dort angekommen sah ich Elisabeth und hab nur noch geschrien: „Wir müssen hier raus, hier läuft irgendwas, wir müssen raus, es wird geschossen“. Elisabeth hatte immer noch das Telefon in der Hand und sah mich total komisch an.

Sie verstand im ersten Moment nicht, warum ich so schrie. In dem Raum standen noch fünf bis sechs Leute. Im nächsten Augenblick kam ein Mädchen in die Halle gerannt. Sie fiel gleich danach hin, Blut floss unter ihrem Körper hervor. Dann kam der Polizist in die kleine Halle. Wir alle standen erst mal nur da. Ich hatte das Gefühl, ich sterbe.

Aber jemand, ich weiß nicht, wer das war, packte mich am Arm und zog mich aus dieser Halle. Ich weiß bis heute nicht, wer es war. Ich habe gar nichts mehr mitbekommen. Alles war verschwommen. Diese Person, die mich aus der Halle zog, hat mir das Leben gerettet. Da bin ich mir ganz sicher.

Davon träume ich nachts immer noch

Ich stand wie die anderen in einer Ecke in der Halle und konnte mich vor Schock nicht bewegen. In genau dieser Ecke sind an dem Tag alle, außer ein Mädchen, gestorben. Ich denke oft darüber nach, dass ich vielleicht eine der Toten in dieser Halle gewesen wäre, wenn mich der- oder diejenige nicht aus dem Gebäude gezogen hätte.

In der Halle hatte ich mich kurz davor nochmal umgeschaut. Ich wollte wissen: Wo ist Elisabeth? Ich konnte ihren Arm nicht mehr greifen. Das ging alles so schnell. Schließlich sah ich sie auf dem Boden liegen, ihr Telefon lag zerbrochen neben ihr. Ich weiß bis heute immer noch, wenn ich mir Bilder von dieser Halle anschaue, wo und wie sie genau gelegen hat.

Davon träume ich teilweise nachts immer noch. Ich wusste, sie war tot, realisierte es aber nicht. Als ich endlich draußen ankam, rannte ich auf den Zeltplatz. Dort lagen bereits tote Menschen.

Auf dem Zeltplatz atmet Janin kurz durch. Sie will sich bewusst machen, sagt Janin, was sie da gerade gesehen hat. Das jemand andere erschießt, kenne sie nur aus Filmen und plötzlich sei das die Realität, passiere im wirklichen Leben. Sie rennt weiter über den Zeltplatz.

Janin: Während des Laufens überlegte ich mir: Er hat auf die Köpfe geschossen, also machst du jetzt alles, damit er nicht deinen Kopf trifft. Das sah bestimmt total bescheuert aus, doch das war mir in diesem Moment egal. Ich bin einfach nur noch im Zickzack gelaufen, habe mich geduckt, bin gesprungen, bewegte den Kopf hin und her, einfach, dass man nie wusste, wo mein Kopf sich im nächsten Moment befindet.

Hinter mir schrien und riefen die Leute um Hilfe. Dann spürte ich einen Schlag am Körper, quasi wie ein Stromschlag. Doch im ersten Moment habe ich mich darum nicht wirklich gekümmert. Ich hatte so einen richtigen Adrenalinschub, ich wollte da einfach nur noch weg und bin weiter gerannt. Irgendwann merkte ich jedoch, dass mir das Atmen schwerfällt.

Ich konnte nicht mehr laufen. Schließlich ließ ich mich fallen. Ich bemerkte zu dem Zeitpunkt nicht, dass mich eine Kugel getroffen hatte. Ich dachte einfach, dass es vielleicht wegen der Aufregung sei.

Der „Kjærlighetsstien“, zu deutsch: Liebespfad, verläuft 180 Meter hinter der Cafeteria direkt an der Steilküste entlang. An einigen Stellen fällt der Weg steil zum Ufer hin ab. In zwei, drei Metern unterhalb des Wegs trifft das Wasser des Tyrifjord, dem fünftgrößten Binnesees Norwegens, auf die Felsen der Insel. Hierhin flüchtet Janin und bricht schließlich zusammen. Auf dem Liebespfad sterben wenig später 15 der 69 Opfer.

Janin: Der Weg ist ein ganz enger verschlungener Pfad und durch einen Zaun gesichert, damit man nicht abstürzt. Ich lag an dieser Stelle und wusste, ich kann mich nicht bewegen, weder aufstehen noch weiterlaufen – es geht einfach nicht mehr. Leute sind an mir vorbeigerannt und haben mich liegen lassen. Das habe ich ihnen auch nicht übelgenommen, weil ich in diesem Moment dachte: Jeder denkt an sich, jeder muss sich irgendwie selbst retten.

Im Nachhinein frage ich mich: Warum habe ich so egoistisch gedacht? Man ist doch quasi eine Gemeinschaft. Freunde von mir haben ja auch Verletzten geholfen. Mir fiel ein, dass man in einer Extremsituation auch nur bis zu einem gewissen Punkt helfen kann und irgendwann an seinen eigenen Schutz denken muss.

Es fühlte sich zwar wie Egoismus an, aber ich weiß, dass es nicht so war. Stattdessen ging mir nur eine Sache durch den Kopf: Rennt, lasst mich da liegen.

Ein Mädchen – 17 Jahre alt – bleibt schließlich stehen. Sie sieht Janin auf dem Pfad liegen und fragt, ob sie Hilfe braucht. Janin möchte nur, dass das Mädchen sie liegen lässt, weiterläuft und ein Versteck sucht. Die 17-Jährige antwortet nur: „Nein, du musst da nicht allein durch. Ich helfe dir.“

Janin: Anschließend legte sie sich zu mir. Sie fragte nach meiner Familie und was ich machen würde, wenn ich wieder zu Hause wäre. Sie versuchte mich von dieser Situation abzulenken, denn wir hörten die ganze Zeit die Schüsse und die Schreie. Es war einfach unerträglich. Man lag da und konnte nichts machen. Ich war einfach hilflos.

Irgendwann hörten wir die Schüsse ganz in unserer Nähe. Wir fragten uns: Was passiert, wenn er jetzt diesen Pfad entlangläuft und genau hier vorbeikommt? Ich kann mich nicht bewegen. Daraufhin bettelte ich das Mädchen an, doch endlich zu gehen. Ich habe sogar geweint und zu ihr gesagt: „Lauf jetzt bitte los, lass mich hier liegen, denn dann überlebst wenigstens du“.

Sie wollte aber nicht. Stattdessen sagte sie immer wieder, dass sie mich nicht allein lässt. Irgendwann sagte sie, dass ich blute. Ich nahm meine Schusswunde nicht als solche wahr, sondern eher als Kratzer, als ob ich gegen irgendwas gelaufen wäre. Einen spitzen Ast oder so etwas. Ich dachte immer, bei Schusswunden würde man höllische Schmerzen haben.

Doch das Einzige, was ich spürte, waren Probleme beim Atmen, aber wirkliche Schmerzen spürte ich keine. Auf einmal hatte das Mädchen eine Idee: Wir benutzten mein Blut und schmierten es auf unsere Köpfe und überall ins Gesicht. Er sollte glauben, wir sind tot. Das ist nun nichts, was man im normalen Leben machen würde, aber sie hatte diesen Überlebensinstinkt.

Ich hörte dieses Schritte

Ich war froh, dass sie diese Idee hatte. Nie im Leben wäre ich darauf gekommen. Sie sagte dann: „Verhalte dich ruhig“. Dann nahm sie eine unnatürliche Position ein, damit er denkt, dass wir bereits tot sind. Ich lag dann irgendwie ganz komisch mit meinen Armen und meinem Kopf auf diesem Weg. Schließlich bemerkte ich, dass irgendwer zu uns kommt.

Es war komplett ruhig und ich hörte diese Schritte. In dem Moment bereute ich, dass ich mein Handy nicht bei mir hatte. Ich hätte am liebsten meine Eltern angerufen und mich von ihnen verabschiedet, weil ich der festen Überzeugung war, dass ich an diesem Tag sterbe. Dann stand irgendwer neben uns. Auf einmal gab es einen ganz lauten Knall.

Es war so laut, dass ich ein Fiepen im Ohr hatte. Ich spürte, wie das Mädchen neben mir zuckte. Irgendetwas berührte meinen Arm, etwas Kaltes und Klebriges. Im nächsten Moment knallte es erneut, das Fiepen in meinem Ohr wurde lauter und mein kompletter Körper stand schon wieder unter Strom.

Ich fing an zu zucken, richtig unkontrolliert, wie bei einem epileptischen Anfall. Schließlich dachte ich: So fühlt es sich also an, wenn man stirbt. Danach war es eine Weile ruhig, ich hatte nur noch diesen Fiepton im Ohr. Ich litt Todesangst, aber irgendwie, auch wenn es komisch klingt: Erleichterung. Ich dachte: „Jetzt stirbst du endlich. Dann bist du erlöst, dann musst du das Ganze nicht mehr miterleben. Dann hast du diese Schmerzen einfach nicht mehr, du bist einfach frei“.

Irgendwann entfernte sich anscheinend diese Person von uns. Ich habe das nicht gehört, aber es kamen keine weiteren Schüsse. Er war weg. Weiter entfernt setzten die Schüsse wieder ein. „Warum höre ich das noch?“, fragte ich mich selbst. Ich versuchte die Augen aufzumachen, das ging nicht. Mein ganzer Körper fühlte sich nicht mehr so an, als würde er mir gehören. Er kam mir wie etwas Fremdes vor, als wenn ich nicht mehr ich selbst wäre. Ich hatte auch gar kein Zeitgefühl mehr. Es hat sich angefühlt wie fünf Jahre.

72 Minuten – so lange geht der Attentäter über die Insel bis er von einer Anti-Terror-Einheit schließlich gestellt und festgenommen wird. Janin wird schließlich von Rettungskräften aufgefunden. Sie tasten nach ihrem Puls. Sie hört noch, wie jemand ruft: „Sie lebt!“

Janin: Im nächsten Moment hoben mich Menschen hoch. Sie trugen mich in ein Boot und legten eine Decke über mich. Nach einer gefühlten Ewigkeit schaffte ich es zum ersten Mal wieder meine Augen zu öffnen. Vor mir sah ich einen Polizisten. Das Einzige, was ich in diesem Moment rausbrachte war: „Nicht schießen, bitte nicht schießen“.

Wir brauchen einen Hubschrauber

Er meinte: „Nein, ich schieße nicht. Ich möchte dir helfen“. Ich starrte aber auf diese Waffe, die an seinem Gürtel befestigt war. Er nahm dann die Waffe ab und legte sie unter eine Decke. Von diesem Moment an war mir klar, dass nun wirklich Hilfe da ist. Mehr weiß ich nicht mehr. Es war alles so verschwommen.

An Land nahm ich nur noch die weinenden Menschen und diese vielen verzweifelten Schreie wahr. Man schob mich schließlich in einen Krankenwagen. Dort waren ganz viele hektische Leute um mich rum und das Letzte, was ich von dem Tag noch mitbekommen habe, waren die Worte der Notärztin: „Wir brauchen einen Helikopter, sonst verlieren wir sie.“

Janin kommt ins Universitätsklinikum nach Oslo. Dort liegt sie einen Monat. Die Ärztinnen und Ärzte stellen bei ihr eine punktierte Lunge und einen Schuss in den Kopf fest. Sie hat großes Glück: Die Kugel blieb zwei, drei Millimeter vor dem Gehirn stecken. Das Geschoss berührte ihr Gehirn nicht. Was hingegen verletzt wurde, sagt sie, sei der Gleichgewichtsnerv.

Sie tanzt gern Hip-Hop und spielt Fußball. Das ist nicht mehr möglich. Zudem erfährt sie später: Wenn sie nur zehn Minuten länger auf diesem Weg gelegen hätte – sie wäre verblutet. An ihrem Bett wacht die ganze Zeit ihr Vater. Ihre Mutter kommt immer mal wieder dazu. Sie befindet sich zu diesem Zeitpunkt in psychologischer Betreuung.

Janin beschreibt ihren Vater als großen, muskulösen und starken Mann. Er ist Zimmermeister. Als sie im Krankenhaus liegt und erst einige Tage später nach dem Anschlag die Augen öffnet, sitzt ihr Vater neben ihrem Bett und hält ihre Hand – er weint.

Janin: Ich öffnete meine Augen und sah erstmal nur helles Licht. Es war auch total ungewohnt und ich spürte, wie jemand meine Hand hielt. Ich versuchte dann auch zuzudrücken und mein Papa sagte immer wieder: „Janin, hörst du mich? Hallo, Janin“. Dann sah ich erst einmal diese Umrisse und schließlich meinen Vater.

Seinen Anblick werde ich nie vergessen. Ich habe ihn vorher noch nie so gesehen. Er war verweint. Es war ein emotionaler Moment. Diese Erleichterung in seinem Gesicht. Mein Papa wirkte so sehr verletzlich. Ich konnte in diesem Augenblick nichts sagen, meine Kehle war wie zugeschnürt.

Er hat auch gemerkt, dass ich etwas sagen wollte. Mein Papa bedeutete mir ruhig zu bleiben und holte die Ärztin. Meine Mama war komplett fertig. Sie kam später noch dazu, nachdem sie gehört hatte, dass ich wach bin.

Zuallererst weiß Janin nicht, was passiert ist. Eine Ärztin kommt an ihr Bett, zieht behutsam den Beatmungsschlauch aus ihrem Mund und stöpselt sie von den Maschinen ab. Sie erklärt ihr, dass die nächsten Nächte sehr schwer werden könnten.

Ihr Körper werde sozusagen den Überlebensmodus verlassen und so würden auch die Erinnerungen Stück für Stück zurückkommen. Die Medizinerin warnt sie, dass nun viele Nächte mit Alpträumen folgen werden. So sei es auch gewesen, sagt Janin: „Ich wurde nachts wach – und schrie.“

Janin: Alles was ich erlebt hatte, kam auf einmal wieder. Doch ich hatte sehr viel Unterstützung. Meine Eltern waren Tag und Nacht bei mir. Beide haben mich nicht mehr aus den Augen gelassen. „Wir haben dich schon einmal fast verloren. Wir lassen dich nicht allein“, sagten sie. Ich für meinen Teil musste die Ereignisse erst einmal realisieren.

Durch ihre Blicke wurde mir bewusst: Sie ist tot

Zeitungsartikel, TV-Nachrichten – das wurde alles vor mir abgeschottet. Meine Eltern wollten nicht, dass ich damit konfrontiert werde. Ich sollte erst einmal mit mir selbst klarkommen. Die erste Frage, die ich stellte, nachdem ich wieder richtig reden konnte, war: Wo ist Elisabeth? An der Art und Weise, wie meine Eltern mich ansahen, wusste ich: Sie ist tot.

Da habe ich es zum ersten Mal realisiert. Ich konnte nicht weinen, das war ein Schockmoment. Mir wurde auch erzählt, wie sie gestorben war. Sie wurde durch drei Schüsse getroffen und war sofort tot. Mich beruhigte diese Information ein wenig, denn so wusste ich, dass sie nicht gelitten hat. Sie wäre der letzte Mensch, der es verdient hätte, sich in den Tod zu quälen.

Ich wusste anschließend erst einmal nicht, wie es weitergehen soll. Das war eigentlich das Schlimmste. Nicht die Alpträume, nicht die ganzen Schmerzen, sondern einfach das Wissen, dass ich meine beste Freundin verloren habe.

Zwei Wochen später erfährt Janin zum ersten Mal, was am 22. Juli 2011 auf der Insel Utøya passiert ist. Sie fragt ihren Vater. Er erzählt ihr von dem Amoklauf. Doch nur kurz – über mehr Informationen möchte er vorerst nicht sprechen.

Zu groß ist seine Sorge, sagt Janin, dass es zu viel für sie wäre. Doch die Erinnerungen kommen nach und nach zurück in ihr Gedächtnis. In dieser Zeit sieht sie ihn zum ersten Mal wieder – den Attentäter.

Janin: Nach einem Monat verließ ich das Krankenhaus, musste jedoch zwischendurch immer mal wieder zurück, um zur Reha zu gehen. Als ich ihn sah, war mein Gefühl durchwachsen. Ich hatte nicht direkt Angst. Meine Erinnerung an ihn war auch nur recht kurz. Dadurch hatte ich zuallererst dieses typische Klischee eines Al-Qaida-Terroristen im Kopf: ein bärtiger, schwarzhaariger Mann.

Als ich schließlich sah, dass der Täter ein Norweger ist, fragte ich mich: Wie kommt ein Mensch darauf, Kinder zu töten? Wie kommt man darauf, so viele Menschen auf einmal zu töten? Ich konnte es erst gar nicht glauben und auch die Hintergründe überhaupt nicht verstehen. Ich fühlte Fassungslosigkeit, als ich ihn zum ersten Mal nach der Tat wiedersah. Dieser eiskalte Blick von ihm und dass er auch überhaupt nichts bereute, machte mich einfach nur fassungslos.

Vor Gericht konnte und wollte Janin als Zeugin aussagen. Die Überlebenden wurden im Vorfeld gefragt, ob sie möchten, dass der Täter mit im gleichen Raum sitzt. Wenn nicht, dann wurde er in einen anderen Raum gebracht, konnte dem Prozess aber weiterhin folgen. Janin möchte das alles nicht. Sie will ihm ins Gesicht blicken.

Janin: Ich habe von Anfang an gesagt: „Nein, ich möchte, dass er mit im Raum sitzt, ich möchte ihn während meiner Aussage anschauen.“ Kurz davor zweifelte ich an meiner Entscheidung. Fragen schwirrten mir durch den Kopf: Was hast du da gesagt? Warum machst du das jetzt? Wieso tust du dir das an? Ich versuchte ihn im ersten Moment gar nicht anzugucken.

Hab dann nur mal aus den Augenwinkeln dieses Grinsen von ihm gesehen. Nachdem ich meine Aussage gemacht habe, fragte mich die Richterin, ob ich noch irgendwas hinzufügen möchte. Ich dachte mir: Diese Chance bekommst du nie wieder. Ich sah ihn direkt an und sagte: „Du hast mich nicht getötet. Du hast viele andere nicht getötet.

Janin hat sich nach dem Anschlag ein Tattoo stechen lassen: Es soll die Hand ihrer besten Freundin und ihre eigene darstellen. Es ist ein Symbol tiefer Freundschaft.SPD Berlin/Sebastian Thomas
Janin hat sich nach dem Anschlag ein Tattoo stechen lassen: Es soll die Hand ihrer besten Freundin und ihre eigene darstellen. Es ist ein Symbol tiefer Freundschaft.

Du hast meine beste Freundin getötet. Du hast mir meine engste Vertrauensperson, meine Freunde genommen. Doch die Mehrheit lebt noch, wir haben gewonnen, du hast verloren.“ Ich wollte einfach nur, dass er weiß, dass wir nicht aufgeben. Wir kämpfen uns zurück ins Leben, er kann uns nicht unterkriegen. Das wollte ich ihm zeigen.

Die Reaktion von ihm war einfach nur ein Grinsen, so nach dem Motto: Ihr werdet schon sehen. So hat sich das für mich angefühlt. Doch ich spürte einen regelrechten Adrenalinschub: Nein, ich kämpfe. Du bekommst mich nicht kaputt.

Am Ende des Prozesses bekommt der Attentäter die höchste Strafe, die das norwegische Justizsystem vorsieht: 21 Jahre Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Janin ist bei der Urteilsverkündung zusammen mit ihrer Mutter im Gericht anwesend. Ihr Vater blieb zuhause. Sie kenne ihren Vater, sagt sie im Gespräch: Seine Wut sei zu groß gewesen.

Janin: Es war, denke ich, auch eine gute Entscheidung. Mein Vater wäre ihn angesprungen. Mit meiner Mutter und mir war noch Elisabeths Familie und ihre große Schwester dabei. Sie wurde ebenso bei dem Attentat schwer verletzt. Wir alle hörten zusammen die Urteilsverkündung. Als ich es schließlich vernahm, war ich erleichtert.

Ich dachte, ein Verrückter wird wieder weggesperrt und er kann uns auch nichts mehr tun. Die Angst ist natürlich immer noch da. Es gibt weiterhin Leute, die seine Ideologien und seinen Theorien einfach glauben und die bestimmt auch zu solch einer Tat in der Lage sind.

Doch in diesem Moment war der vorherrschende Gedanke: Ein Gefährder ist erstmal weggesperrt. Ich war froh, auch darüber, dass er für zurechnungsfähig erklärt wurde. Hätte man ihn als unzurechnungsfähig eingestuft, dann wäre er höchstwahrscheinlich in der Psychiatrie gelandet und vielleicht nach einigen Jahren wieder rausgekommen.

Neun Jahre später sitzt Janin auf einer Parkbank in Berlin und schaut auf die Spree. Schiffe und kleine Boote fahren vorbei. Menschen sonnen sich und lachen. Janin hat in den vergangenen Jahren viel durchgemacht – musste viel psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Bis 2019 hat sie noch jede Woche, später monatlich, bei einer Traumatherapeutin gesessen. Doch mittlerweile könne sie Nächte durchschlafen. Nur im Juli nicht – dann sei es ganz schlimm.

Janin: Es ist natürlich bis heute ein komisches Gefühl, wenn ich in großen Menschenmengen stehe. Da habe ich immer noch Angst und Panik und stelle mir vor, dass gleich jemand mit der Waffe um die Ecke kommt und mich erschießt. Man hat teilweise Paranoia. Ich bin ein großer Fan von Union Berlin und immer, wenn ich im Stadion stehe, habe ich aufgrund der Menschenmassen ein mulmiges Gefühl.

Ich kann die Nächte durchschlafen. Außer im Juli – dann ist es ganz schlimm

Das endete auch schon mal in der ein oder anderen Panikattacke. Aber ich habe ganz tolle Leute, die mit mir dort gemeinsam stehen und dafür sorgen, dass ich etwas Platz um mich herumhabe und das Spiel genießen kann. Ich bin dankbar, dass ich solche Menschen habe, denn im Stadion kann ich alles für einen Moment vergessen und einfach glücklich sein.

Ich habe gelernt, damit umzugehen. Die Nächte kann ich meist gut durchschlafen. Außer jetzt im Juli. Früher, so vor fünf oder sechs Jahren, habe ich teilweise noch Beruhigungstabletten und Antidepressiva genommen. Ich war teilweise noch in psychosomatischen Kliniken, hatte sehr schwer mit Depressionen und Suizidgedanken zu kämpfen.

Ich habe dann viel mit meinen Eltern gesprochen und mir auch selbst gesagt: Ich möchte nicht aufgeben. So leicht mache ich es ihm nicht. Deswegen habe ich diese ganzen Strapazen mit Klinik und Therapie auf mich genommen, obwohl ich wusste, es wird sehr hart, und ich will das eigentlich nicht, aber ich habe es für notwendig empfunden. Im Endeffekt bin ich froh, dass ich es gemacht habe. Ich kann heute einfach freier und glücklicher leben.

Janin hat bis heute Probleme mit ihrem Gleichgewichtsnerv. Sie könne weder tanzen, noch Fußball spielen. Früher wollte sie gerne Polizistin werden. Das sei jetzt nicht mehr möglich. Und auch auf andere Weise machen sich die schweren Verletzungen von damals bemerkbar.

Janin: Es hat sich schon sehr ausgewirkt. Wenn ich mich zu schnell oder zu viel bewege, spüre ich immer noch Schmerzen. Bei der momentanen Wärme ist es noch einmal ganz schlimm. Mein Körper ist schneller ausgelaugt und schwach. Während andere in meinem Alter an einem Samstagabend auf Party gehen, bin ich diejenige, die um 21.30 Uhr im Bett liegt.

Andere würden sagen: Langweilerin. So fühlt es sich manchmal an, wenn man nicht mehr so viel unternimmt, weil man einfach keine Kraft hat. Ich habe seit der Tat auch das Interesse an vielen anderen Dingen verloren. Tage wie Silvester sind für mich der Horror, weil es ständig überall knallt. Da kommen die Erinnerungen wieder hoch.

In solchen Moment bin ich aber froh, zwei Katzen zu haben, die für mich eine Art Seelentröster sind. Ich habe nach wie vor Flashbacks und bin ein sehr schüchterner Mensch geworden. Ich vertraue Menschen nicht mehr so schnell und habe auch sehr wenige Freunde in Berlin. An mehr Leute traue ich mich auch nicht heran. Ich wurde einfach mental um Jahre zurückgeworfen. Ich bin nicht mehr dieses selbstbewusste Mädchen, das ich mal war. Ich bin körperlich 24, aber mental vielleicht 18 oder 19.

Ihre beste Freundin hat Janin nie vergessen. Eine Erinnerung an Elisabeth hat sie sich auf ewig in ihre Haut stechen lassen. Eine andere kommt von Elisabeths Eltern. Sie wollten von Janin wissen, wie die letzten Stunden im Leben ihrer Tochter aussah. Es fällt Janin schwer, doch sie erzählt es. Mit Elisabeths Eltern ist die 24-Jährige nach wie vor in Kontakt.

Janin: Ich habe eine Kette. Sie hat Elisabeth gehört und ihre Eltern haben mir sie zu Weihnachten 2011 geschenkt. Vor zwei Jahren habe ich mir außerdem ein Tattoo stechen lassen. Es soll ihre Hand und meine Hand symbolisieren, weil wir sehr eng miteinander befreundet waren. Elisabeth fand Herzchen-Motive sehr schön.

Ihre Eltern wollten einfach, dass ich etwas habe, was mich an sie erinnert. Sie wussten, dass ich nach Berlin ziehen werde, in die Heimat meiner Mutter. In Norwegen erinnerte mich einfach alles an sie und ich brauchte einfach Abstand, um mit mir und mit dem ganzen Geschehen klarzukommen.

Die Kette erinnert Janin an ihre beste Freundin ElisabethSPD Berlin/Sebastian Thomas
Die Kette erinnert Janin an ihre beste Freundin Elisabeth

Doch sie wollten etwas, außer Bilder, was ich von ihr immer dabeihaben kann. Es war für sie gut zu hören, wie die letzten Minuten im Leben ihrer Tochter aussahen, mit wem sie sie verbracht hat und wie ihre Gefühlslage war. Auch wenn es für mich nicht sehr einfach war, ihnen zu erklären, wie Elisabeths Gesichtsausdruck war, bevor sie getötet wurde.

Es hat ihnen geholfen, auch um damit abzuschließen. Bevor die Toten vom Tatort weggebracht wurden, machte die Polizei Bilder. Elisabeths Eltern wollten unbedingt diese Bilder sehen, einfach weil sie die letzten Stunden und Minuten ihrer Tochter rekonstruieren wollten. Das hat ihnen sehr geholfen.

Wie Janins Zukunft einmal aussieht, dass wisse sie nicht. Sie sei spontan, sagt sie. Sie wolle auf alle Fälle nicht mehr im Einzelhandel arbeiten. Zu groß sei die körperliche Belastung. Zudem komme der Druck durch die Corona-Zeit hinzu. Sie hat bereits andere Pläne.

Janin: Ich glaubte erst, gerade die Einzelhandelskauffrau ist vielleicht so ein Ausweichberuf zur Polizistin. Immerhin habe ich auch mit Menschen zu tun. Doch ich habe schnell gemerkt, dass ich dieses stundenlange Stehen und teilweise auch diesen Druck, den man besonders jetzt gerade durch die Corona-Krise im Einzelhandel ausgesetzt ist, einfach nicht aushalte.

Ich möchte erst mal versuchen aus diesem Job rauszukommen. Ich würde gerne bei der Polizei arbeiten, doch ich scheitere spätestens bei dem Sporttest. Daher könnte ich mir gut vorstellen, im Büro zu arbeiten beziehungsweise eine neue Ausbildung im Büro anzufangen.

Im vergangenen Jahr, im Juli, war Janin wieder auf Utøya: Auf einer Gedenkveranstaltung dachte sie den Opfern des Anschlags. In diesem Jahr tat sie dies auch: vor den Nordischen Botschaften in Berlin. Dass nach neun Jahren noch immer so viele Menschen kommen – das überwältigt sie. Zum Schluss dieses Gesprächs wird sie einen Satz sagen, an dem man erkennt: Hinter all dem Schmerz und den schrecklichen Erinnerungen von damals ist es da: Das selbstbewusste Mädchen von damals – es kämpft sich zurück ins Leben.

Janin: Ich möchte mich bei allen bedanken, die am 22. Juli dieses Jahres auf der Gedenkfeier an der Norwegischen Botschaft dabei waren. Die Erinnerung ist enorm wichtig. Solche Taten sind eine Mahnung: was passiert, wenn wir rechten Terror nicht stoppen. Das meinte ich auch mit einem Satz bei der Gedenkfeier, als ich sagte: Wenn ein Mann so viel Hass erzeugen kann, denkt daran, wie viel Liebe wir alle zusammen zeigen können.

Dieses Zitat stammt von einer Überlebenden. Wir sollten uns nicht unterkriegen lassen, weitermachen mit dem, was wir tun. Wir müssen weiterhin gegen den Rechtsextremismus kämpfen. Wir sollten versuchen weiterhin solche Taten zu verhindern. Die Opfer sollten wir für immer im Gedächtnis behalten, denn sie hätten es sicher gewollt, dass wir weitermachen, keine Angst haben und kämpfen.

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Autor:in

Sebastian Thomas

Redakteur der BERLINER STIMME und des vorwärtsBERLIN