Burhan Qurbanis moderne Filmadaption des Döblin-Klassikers „Berlin Alexanderplatz“ verhandelt in epischer Länge von 183 Minuten gefühlt alle wesentlichen Diskursthemen der Gegenwart. Das gelingt nicht immer und hat durchaus seine Längen, schafft bisweilen aber profunde Erkenntnisse.
Franz Biberkopf heißt im Jahr 2020 Francis und kommt aus Guinea-Bissau. Welket Bungué spielt den geflüchteten Wiedergänger der döblinschen Hauptfigur derart eindringlich, dass es schwer fällt, keine unmittelbare Empathie mit seinem vor Gott geleisteten Schwur zu empfinden, zukünftig ein anständiger Mensch sein zu wollen.
Reinhold, ein von Albrecht Schuch fast schon unverschämt gut gespielter Neurotiker der Berliner Unterwelt macht Francis, den er fortan Franz nennt, einen Strich durch die Rechnung und zieht ihn immer tiefer hinein in kriminelle Geschäfte. Infolge einer schweren von Reinhold mutwillig herbeigeführten Verletzung verliert Francis seinen linken Unterarm und wird von Mieze (Jella Haase) gepflegt.
Diese arbeitet unter dem Pseudonym Kitty als Escort für reiche Unternehmer. Francis und Mieze verlieben sich ineinander, was der eifersüchtige Reinhold nicht akzeptieren kann und einen tödlichen Plan schmiedet. Burhan Qurbani lässt seine Figuren eine immense Bandbreite von Themen abhandeln: Flucht, Postkolonialismus, Rassismus, Sexarbeit, Kriminalität und moderne Klassenunterschiede sind nur einige davon.
Bisweilen wirkt der Film etwas überfrachtet von Diskussionsgrundlagen, die nur angerissen werden. Trotzdem gelingt es, den Figuren Tiefe abzugewinnen. Der britische Astrophysiker Carl Sagan hat in Bezug auf die unermessliche Weite des Universums im Verhältnis zur menschlichen Selbstwahrnehmung einmal konstatiert, dass diese Weite für kleine Kreaturen, wie die Menschen sie seien, nur durch Liebe zu ertragen wäre.
Francis ist in mehrfacher Hinsicht auf Identitätssuche in der unermesslichen Weite einer Stadt, die in gewisser Hinsicht auch ein ganz eigenes Universum ist. Letztlich suchen Qurbanis Übersetzungsfiguren der vor fast 100 Jahren von Alfred Döblin erdachten Charaktere seines Großstadtromans verzweifelt eine eigene Identität darin, angesichts der kaum zu greifenden Übermacht Berlins und der schieren Weite der nicht nur räumlichen Bedeutung der Stadt, geliebt zu werden.
In dieser Verzweiflung, die ein Spiegel der tatsächlichen emotionalen Unerreichbarkeit vieler junger Berlinerinnen und Berliner in der Gegenwart zu sein vermag, eskaliert eine tiefgründige Reise durch das Hybride der Identitäten, die das letzte Filmdrittel zu einem Meisterwerk macht, für das sich die diskursiven Längen des Films lohnen.
„Berlin Alexanderplatz“, wenn auch im diesjährigen Wettbewerb der Berlinale leer ausgegangen, ist mit fünf Deutschen Filmpreisen ausgezeichnet worden und kommt am 16. Juli 2020 in die Kinos. Disclaimer: Berlin hat eine vielfältige Kinolandschaft, zu der auch viele kleine Betriebe gehören.
Wenn die Kinos wieder öffnen, sind sie wie viele andere Kultureinrichtungen und diverse weitere Branchen auf unsere Solidarität und mehr denn je auf unsere Besuche angewiesen.
Felix Bethmann
Schreibt für die BERLINER STIMME und den vorwärtsBERLIN