Wiebke Neumann, Mitglied im SPD-Kreisvorstand Tempelhof-SchönebergSPD Berlin/Sebastian Thomas

Wohnungs- und obdachlose Frauen: Ein Leben im Verborgenen

Als Wiebke Neumann, Mitglied im SPD-Kreisvorstand Tempelhof-Schöneberg, vor 16 Jahren nach Berlin zieht, begegnet ihr ein Thema, das sie seitdem nicht mehr loslässt: wohnungs- und obdachlose Frauen. Im Interview spricht sie darüber, warum Frauen wohnungslos werden und was Betroffenen auf der Straße widerfährt.

BERLINER STIMME: Liebe Wiebke, was ist der Unterschied zwischen einer wohnungs- und einer obdachlosen Frau?

Wiebke Neumann: Wohnungslos ist man, wenn man keine eigene Miet- oder Eigentumswohnung hat. Aber das ist noch nicht gleichbedeutend mit obdachlos. Wenn man wohnungslos ist, kann es auch sein, dass man bei Bekannten oder in dafür vorgesehenen staatlichen Einrichtungen übernachtet. Man hat keine Wohnung im klassischen Sinne. Hingegen ist man obdachlos, wenn man kein Dach mehr über dem Kopf hat. Außerdem schlafen Obdachlose oft auf der Straße oder in Parks.

Du beschäftigst dich schon seit längerer Zeit mit diesem Thema. Wie kam es dazu?

Ursprünglich komme ich aus einer Kleinstadt. Wenn man in Berlin durch die Straßen geht, dann sieht man einfach viele obdachlose Menschen, teilweise auch Wohnungslose. Das war ich nicht gewohnt. Mittlerweile ist es 16 Jahre her, dass ich in eine Großstadt gezogen bin, und seither hat mich dieses Thema nicht mehr losgelassen.

Wiebke Neumann, Mitglied im SPD-Kreisvorstand Tempelhof-SchönebergSPD Berlin/Sebastian Thomas
„Frauen haben gesellschaftlich gesehen ein bisschen weniger Geld zur Verfügung, sind häufiger alleinerziehend und öfter von Armut betroffen“ – Wiebke Neumann, Mitglied im SPD-Kreisvorstand Tempelhof-Schöneberg,

Während der vergangenen fünf Jahre war ich in der Bezirksverordnetenversammlung in Tempelhof-Schöneberg als Sprecherin für Soziales ehrenamtlich tätig. Ich habe mir dieses Problem zum Schwerpunkt gemacht, weil Wohnungs- und Obdachlosigkeit natürlich auch in Schöneberg ein Thema ist und es mir persönlich am Herzen liegt. Wir erreichen in unserer Gesellschaft so viel, dann müssen wir es auch schaffen, Obdachlosigkeit zu überwinden.

Aus welchem Gründen werden Frauen wohnungs- beziehungsweise obdachlos?

Wohnungslosigkeit ist meistens der erste Schritt, bevor man obdachlos wird. Die Gründe sind verschieden, ganz individuell, wie bei Männern auch. Aber bei Frauen kommen noch ein paar Faktoren dazu. Sie haben gesellschaftlich gesehen ein bisschen weniger Geld zur Verfügung, sind häufiger alleinerziehend und öfter von Armut betroffen. Das sind alles Umstände, die auch dazu führen können, dass sie ihre Wohnung verlieren.

Dann gibt es auch Fälle, in denen Frauen von Gewalt in der Partnerschaft betroffen sind und dadurch ihre Wohnung verlieren. Jedoch sind obdachlose Frauen weniger sichtbar. Man sieht auf der Straße eher Männer als den klassischen Obdachlosen. Das liegt daran, dass Frauen auf andere Weise obdachlos sind. Sie suchen sich häufig andere Wege und übernachten öfter bei Bekannten und versuchen ihre Lage eine sehr lange Zeit zu verdecken. Deshalb nimmt man sie auch weniger wahr.

Warum verhalten sich wohnungslose Frauen eher unauffällig?

Betroffene Frauen wollen auch aufgrund von Scham im öffentlichen Raum so wenig wie möglich auffallen. Viele bemühen sich das zu überspielen, zu verbergen und suchen sich andere Möglichkeiten. Sie waschen sich auf öffentlichen Toiletten, nutzen Angebote von Kleiderkammern oder kommen eben bei Freunden unter.

Warum ist Obdach- und Wohnungslosigkeit für Frauen noch einmal schlimmer als für Männer?

Bei Frauen kommen noch andere Faktoren dazu. Sie sind beispielsweise häufiger von sexueller Gewalt betroffen. Obdachlose sind sowieso schon ungeschützter, einfach weil sie diesen Schutzraum, ein eigenes Zuhause, nicht haben. So sind sie zeitweise schlimmen Fällen von Gewalt ausgesetzt. Außerdem gehen manche Frauen schwerwiegende Abhängigkeiten ein. Da gibt es dann Partner oder irgendwelche Bekannten, die die Notlage der Frau ausnutzen und sexuelle Gefälligkeiten einfordern.

Dazu kommen ganz praktische Sachen. Man muss sich das nur mal vorstellen: Jemand lebt tatsächlich auf der Straße und muss seinen Alltag so bewältigen. Da haben Frauen stärker mit der Hygiene zu kämpfen als Männer. Allein die Periode ist bei obdachlosen Frauen ein Riesenproblem. In diesem Bereich gibt es Vereine, die sich zu diesem immer noch schambehafteten Thema engagieren. Einer davon ist der Sozialdienst katholischer Frauen. Dieser bietet für betroffene Frauen ein Duschmobil an. Da gibt es verschiedene Standorte, unter anderem in Schöneberg.

Nun ist noch relativ wenig über Wohnungs- und Obdachlosigkeit von Frauen bekannt. Erst Mitte der 90er-Jahre gab es wissenschaftliche Untersuchungen über die Bedürfnisse von Frauen, die auf der Straße leben. Dementsprechend gab es auch erst einmal keine gezielten Hilfsangebote. Kannst du dir erklären, warum die Forschung über dieses Thema erst so spät begonnen hat?

Ich glaube, dass wir generell eine schlechte Datenlage haben. Bei Frauen ist es nochmal stärker, weil sie eher unsichtbare Obdachlose sind. Das Thema ist in den vergangenen Jahren in den Fokus gerückt, weil es in den Städten unübersehbar geworden ist. Dadurch beschäftigen sich mehr Menschen mit diesem Problem, es wird mehr darüber gesprochen und dementsprechend mehr Daten erhoben. Bei der Nacht der Solidarität wurde 2020 zum ersten Mal eine Zählung von obdachlosen Personen auf der Straße durchgeführt.

Gerade ist der Bund damit beschäftigt eine Statistik von wohnungslosen Menschen zu erstellen. Das geht auf einen Beschluss zurück, der noch vor der Wahl formuliert wurde. Konkrete Zahlen fehlen bisher. In Berlin gab es mal Schätzungen, doch die sind schon ein paar Jahre alt. Damals ging die Caritas von 2.500 obdachlosen Frauen aus. Doch es ist eben nur ein Schätzwert und deshalb finde ich Versuche präzise Zahlen zu erhalten sehr wichtig.

Welche Hilfsangebote bietet das Land Berlin wohnungs- noch obdachlosen Frauen an?

Ich würde gerne vorausschicken, dass Berlin da sehr vorbildlich und stark an das Thema herangeht. Bereits in den vergangenen fünf Jahren hat sich unter Rot-Rot-Grün, was die Angebote und Hilfsstrukturen betrifft, schon viel verbessert. Da würde ich uns als Regierungsparteien auch mal auf die Schulter klopfen. Das Thema und wie damit weiter umgegangen werden soll steht auch im neuen Koalitionsvertrag.

Es gibt verschiedene Angebote und Strukturen für wohnungs- und obdachlose Menschen in Berlin. Zum einen gibt es Unterkünfte für Wohnungslose, zum anderen gibt es auch einige, die sich speziell an Frauen und Familien richten. Natürlich könnten es immer mehr sein. Darüber hinaus gibt es niedrigschwellige Angebote. Da muss man sich nicht ausweisen oder erklären, da geht man einfach hin, wie zum Beispiel Tagesstätten für Wohnungslose oder eben das Duschmobil.

Wer Hilfe und Unterstützung benötigt, ist da genau richtig. Ich finde es einen wichtigen Ansatz, dass nicht immer gleich die große Verwaltungskeule geschwungen wird, wenn jemand gerade akut Hilfe braucht. Da bekommt jemand in dem Moment das, was er oder sie braucht und das ist in diesem Zusammenhang eine Übernachtung oder eine Dusche. Außerdem haben wir in Berlin die Plätze der Kältehilfe enorm ausgebaut. Während der Corona-Pandemie wurden auch 24/7-Unterkünfte geschaffen und einige davon verstetigt.

Welche Einrichtungen kennst du von deiner Arbeit vor Ort?

Das ist einmal der Sozialdienst katholischer Frauen e.V. mit dem Duschmobil und anderen Angeboten für wohnungslose Frauen. Dann ist die Stadtmission immer ein guter Ansprechpartner. Da ist Dieter Puhl (Armutsbeauftragter der Stadtmission Berlin, Anm. d. Red.) sehr aktiv. Mit ihm haben wir, also Michael Biel und ich, in einer Folge unseres Schöneberg Podcasts gesprochen. Es gibt eine Tagesstätte für Wohnungslose in Schöneberg, die wir regelmäßig besuchen und dabei kleine Spenden vorbeibringen. In Friedenau gibt es das Nachtcafé „Zum guten Hirten“. Da ist auch Orkan Özdemir sehr aktiv und engagiert sich ehrenamtlich.

Im Koalitionsvertrag haben die Regierungsparteien das Modellprojekt „Housing First“ festgeschrieben. Wie bewertest du diesen Schritt?

Sehr positiv, das ist ebenso ein Ansatz, die Menschen da abzuholen, wo sie gerade sind. Man versucht nicht erst alle ihre Probleme zu lösen, sei es jetzt Sucht oder eine psychische Erkrankung, und dann ganz am Ende eines langen Prozesses steht die Wohnung. Sondern: Erst stehen die eigenen vier Wände und dann kümmern wir uns gemeinsam um den Rest.

Liebe Wiebke, ich danke dir für das Gespräch.

Autor:in

Sebastian Thomas

Redakteur der BERLINER STIMME und des vorwärtsBERLIN