Eingangsschild von Evas HaltestelleSPD Berlin/Sebastian Thomas

Wohnungs- und obdachlose Frauen: Eine Betroffene erzählt

Wohnungslosigkeit ist speziell für Frauen ein schambesetztes Thema. Die wenigsten reden darüber. Die BERLINER STIMME konnte dennoch mit einer betroffenen Frau sprechen. Dabei wird eins deutlich: Sie nimmt Hilfe in Anspruch, doch sie hat ihre Hoffnung fast verloren.

Hildegard fixiert den Gegenüber aufmerksam, der Rücken ist dabei durchgedrückt, ihre Lesebrille wandert während des Gesprächs immer von der einen in die andere Hand. Einzig ihre Stimme klingt resigniert. „Warum mache ich das alles eigentlich noch?“, fragt sie. Hildegard heißt eigentlich anders. Doch ihren wahren Namen möchte sie nicht sagen, auch kein Foto, denn: Sie ist wohnungslos und besucht deshalb Evas Haltestelle. Eine Einrichtung im Berliner Wedding, die sich um Frauen wie Hildegard kümmert.

Laut Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe gibt es in Deutschland mindestens 59.000 wohnungslose Frauen. In Berlin schätzt man die Zahl von obdachlosen Frauen auf 2.500 – bestätigen lassen sich die Zahlen nicht. „Die Wohnungslosigkeit geht der Obdachlosigkeit voraus. Bevor Frauen auf der Straße leben oder in Parks campieren, ist das eigentliche Problem schon da und das meist schon seit vielen Jahren“, sagt Claudia Peiter, Sozialarbeiterin in Evas Haltestelle.

So wie bei Hildegard. „Ich habe seit ungefähr fünf Jahren keine Wohnung mehr“, sagt die 68-Jährige. Dabei hatte sie einst einen guten Job im Großhandel für Medikamente. „Ich bin gelernte Pharmazeutisch-kaufmännische Angestellte“, sagt sie. Dann wurde sie arbeitslos. Anschließend löste sich ihre Familie auf. Sie blieb alleine in der Wohnung und konnte sie sich das bald nicht mehr leisten. „Von nun an geht’s bergab“, sagt Hildegard.

Nicht nur arbeitslose Frauen können auf einmal wohnungslos werden – die „Gründe sind vielfältig“, erklärt Claudia Peiter und dann zählt sie auf: „Schulden, Krankheit, eine persönliche Krise, ein Coming Out, oder gar häusliche Gewalt.“ Viele von ihnen hätten vorher mit einem Partner zusammengewohnt, standen aber nicht im Mietvertrag und es kommt zu einer Trennung. „Dann ist die Betroffene automatisch wohnungslos, ob sie will oder nicht.“

Hildegard ist laut eigener Aussage zweimal in der Woche in Evas Haltestelle. „Ich wurde hier herzlich aufgenommen“, erzählt sie. „Bekomme was zu essen, kann eine Dusche nehmen und habe meine Ruhe“, erklärt sie. Dennoch „möchte ich Niemandem zur Last fallen“, betont die 68-Jährige. So wie Hildegard nehmen auch viele andere Frauen, die Evas Haltestelle besuchen, über einen längeren Zeitraum erst mal nur Angebote der Grundversorgung in Anspruch.

Das bestätigt auch Claudia Peiter: „Häufig ist es so, dass Frauen zu uns kommen, erst mal im Eingangsbereich stehen und ein bisschen ratlos in die Gegend schauen. Dann nehmen wir sie in Empfang und zeigen ihnen, was es hier so gibt und wer wir sind.“ Danach würden sich die Neuankömmlinge für eine Tasse Kaffee oder dergleichen meist an den Rand der Einrichtung zurückziehen, um sich aufwärmen.

Hildegard bemüht sich einen weitgehend geregelten Tagesablauf zu haben. „Ich habe keine Motivation“, sagt sie. „Ich frage mich täglich, warum ich eigentlich noch aufstehe.“ Dabei ist die Länge des Tages ihr größtes Problem. Der Aufenthalt in Evas Haltestelle und gelegentliche Handlangerdienste lenken sie ab. „Ich arbeite als Hilfskraft in einem Sportstudio.“ Dort könne sie duschen und greife ab und zu mal zum Putzlappen.

Irgendwann nach dem Gespräch steht Hildegard vor Evas Haltestelle. Zwischen den vorbeilaufenden Passantinnen und Passanten fällt sie nicht auf – im Gegenteil: Sie wirkt unauffällig. „Wohnungslose Frauen schaffen es relativ lang oder versuchen es zumindest, ihre Situation zu verbergen, weil es ein sehr schambesetztes Thema ist und weil sie sich natürlich auch sehr angreifbar machen“ erklärt Claudia Peiter.

„Frauen wollen sich auch ein gewisses Maß an Selbstwertgefühl erhalten, indem sie sich gepflegt und nach ihrem Geschmack kleiden und nicht verwahrlosen.“ Wohnungslose Frauen seien unauffälliger, weil es ihnen zum einen für ihr eigenes Wohlbefinden wichtig sei. „Zum anderen wollen sie nach außen ein sortiertes Bild abgeben und nicht sofort die absolute Bedürftigkeit offensichtlich werden lassen“, sagt die Sozialarbeiterin.

Würde man ihnen ihre Situation hingegen ansehen, könnten sie auch sehr schnell zum Opfer von Übergriffen werden. Eine Gefahr, die ihnen auch von anderer Stelle droht: „Manchmal hat die Frau auch einen Bekannten, der sie für ein paar Tage bei sich wohnen lässt. Sie könnte auch noch ein paar Tage länger übernachten, wenn sie nett ist zu ihm“, erklärt Claudia Peiter.

Frauen müssten häufig sexuelle Gegenleistung für die Unterkunft bieten. Bevor Hildegard die Einrichtung verlässt, steht noch eine letzte Frage aus, nämlich: Was sie sich für die Zukunft wünscht? „Ein Ende“, antwortet sie. Ein Ende der Wohnungslosigkeit? „Nein, ein Ende“, erwidert sie mit traurigen Augen. Dann geht sie fort.

Autor:in

Sebastian Thomas

Redakteur der BERLINER STIMME und des vorwärtsBERLIN